„Granarchists“ nannten wir in England jene älteren Damen mit klassisch englisch aristokratischem „upper class“ accent, die sich mit solcher Vehemenz und Radikalität für Tiere einsetzten, dass man nur staunen konnte. „Granny“ für „ältere Dame“ und „anarchists“ für den radikalen Aktivismus. Sie ketteten sich an, blockierten mit ihrem Körper Kälbertransporte, gingen in wochenlangen Hungerstreik, entblößten ihre Brüste aus Protest und unterstützten andere AktivistInnen mit allem, was sie hatten, bis zur Selbstaufgabe. So habe ich sie jedenfalls in meiner Zeit in England von 1989-1997 erlebt, und so gibt es sie sicherlich heute noch.
Eine von ihnen war Joan Court. Sie starb am 1. Dezember 2016 im Alter von 97 Jahren. Ich habe sie gekannt, einige Jahre lang sehr gut gekannt. Oben auf dem Foto sind sie und ich in England Anfang der 1990er Jahre zu sehen. Sie hat 1978, im Alter von fast 60 Jahren, die Tierrechtsgruppe in Cambridge, Animal Rights Cambridge, gegründet und seitdem immer organisiert und mitfinanziert. Hier ein Flugblatt mit dem alten Logo der Gruppe links oben, der Ratte mit ihren Krallen. Für mich war dieses Tier eine Mischung aus lieb und widerständisch, passend für den Tierrechtsaktivismus. Dass gerade eine Ratte gewählt wurde, also ein Tier mit wenig öffentlicher Sympathie, war auch charakteristisch für Joan. Ich habe heute noch einige T-Shirts mit diesem Konterfei.
Joan Court hatte eine starke Meinung, war radikal für die Tiere da und natürlich vegan, aber sie ließ die Gruppe sich selbst entwickeln, ohne Hierarchie. Nicht einfach, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Dabei war sie eine weise Frau mit ungeheuerlicher Lebenserfahrung. Im Jahr 2002 hat sie endlich ihre Autobiographie in Buchform veröffentlicht, Selene Press. Da kann man lesen, dass sie in den 1930er Jahren in Südafrika war, und dann ab 1946 als Hebamme und Sozialarbeiterin in den Slums von Kalkutta. Dort traf sie Mahatma Gandhi, der sie sehr beeindruckt hat, und schloss sich ihm an. Als lebenslange Vegetarierin übernahm sie von Gandhi den Gedanken, durch gewaltfreien Aktivismus die Welt politisch zu verändern. Später setzte sie sich entsprechend für die Rechte von Kindern und die letzten 38 Jahre ihres Lebens auch für die Rechte von Tieren ein. Der erste Teil ihrer Autobiographie heißt demgemäß „In the Shadow of Mahatma Gandhi“.
In den 1960er Jahren lebte sie in der Wildnis der Appalachen in den USA, arbeitete als Hebamme und ritt zu ihren Klientinnen, um sich um sie zu kümmern. Später wird sie von der WHO angestellt und in verarmten Regionen in Indien und der Türkei eingesetzt. Sie beginnt sich vor allem gegen Gewalt an Kindern zu engagieren.
1978 sieht sie ein Plakat mit einem Foto von Tierversuchen und findet ihre neue Berufung. Am nächsten Tag schon gründet sie ihre Tierrechtsgruppe in Cambridge, die bis heute besteht. Der zweite Teil ihrer Autobiographie, „The Bunny hugging Terrorist“, handelt von ihren fast 4 Jahrzehnten als Tierschutz- und Tierrechtsaktivistin. Sie war immer gewaltfrei, doch unterstützte sie verbal, medial und mit allen ihren Möglichkeiten die Aktionen der ALF, insbesondere Tierbefreiungen und ökonomische Sabotage von Tierfabriken oder Tierversuchslabors. Sie nahm an unzähligen Aktionen des Zivilen Ungehorsams teil. Im Alter von 85 ging sie auf das Schiff Farley Mowat der Sea Shepherd Conservation Society, um illegale Walfänger zu rammen und zu versenken. Im hohen Alter von fast 90 initiierte sie eine Kampagne gegen ein geplantes neurologisches Tierversuchslabor der Uni Cambridge, die im Jänner 2004 erfolgreich endete. Zeitlebens kümmerte sie sich um heimatlose Katzen und hatte immer eine ganze Gruppe dieser Tiere bei sich zu Hause.
Im Jahr 2012 gab sie mit 93 ein drittes Buch heraus: „Animals betrayed“. Darin interviewt sie 21 verschiedene TierrechtsaktivistInnen aus England, viele davon hatten langjährige Gefängnisstrafen für ihren Aktivismus absitzen müssen. Ihre Freundschaft und Solidarität mit diesen und allen anderen Menschen, die sich für Tiere einsetzen, war legendär.
Leider habe ich sie nach 1997, als ich England verließ, nicht mehr gesehen. 2007 schickte sie mir aber noch ihre Autobiographie mit einer Widmung „with love and all good wishes, until all are free …“.
Am 1. Dezember 2016 schloss sie für immer ihre Augen, daheim, in ihrem Bett schlafend, umgeben von ihren Katzen.
Wow … Eine Heldin war sie. Sie war etwas besonderes, weil sie sich für die geopfert hatte, die keine Rechte hatten. So wie all jene, die sich um Tiere kümmern und sie beschützen, weil sie auf dieser Welt nicht das Recht auf ein Leben haben! Martin Balluch, Sie sind auch ein Held! Führen Sie Ihre Arbeit fort wie bisher! Danke für dieses Schreiben. Ganz bestimmt lebt sie in Frieden…
Thanks Martin!
Rest in Peace Joan: https://www.theguardian.com/law/2016/dec/22/joan-court-obituary