Für einen katholischen Theologen muss das Kapitel Christentum und Tierethik sehr heikel sein. Kurt Remele löst diese Quadratur des Kreises souverän. Ja, das Christentum und insbesondere die katholische Kirche haben weder eine besonders tierfreundliche Tradition, noch präsentieren sie sich heute als die Speerspitze im Tierschutz, oft im Gegenteil. Aber auch nein, dennoch darf man das Christentum nicht einfach als tierfeindlich abtun, gibt es zahlreiche Menschen, die explizit auf christliches Gedankengut rekurrieren und tierethisch vorangehen. Wer kennt schon den Heiligen Philip Neri (1515-1595), der sogar im Katechismus lobend erwähnt wird und aus Tierschutzgründen, und nicht zur Askese, vegetarisch gelebt hat? Aber auch Johannes Ude (1874-1965), ebenfalls aus Graz wie Remele, katholischer Priester und Theologe, gleichzeitig Tierschutz-Vegetarier und Tierversuchsgegner, ist hier zu nennen, sowie zahlreiche andere. Die vermutlich bekannteste christliche Tierethik stammt aus der Feder von Andrew Linzey in Oxford und fordert, Tiere ethisch wie Kinder zu bewerten, hilfs- und schutzbedürftig, bis zu dem Punkt, die eigenen Bedürfnisse zurück zu stellen, um ihnen beizustehen.
Es ist zweifellos schwierig, eine christliche Tierethik ohne Anthropozentrik zu entwickeln. Wer kann sich schon um die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott drücken, die im christlichen Denken so zentral zu sein scheint. Doch Remele umgeht diese speziesistische Falle. Er spricht von Tierwürde, ohne sie zu relativieren. Eine Würde, die einer utilitaristischen Nutzensabwägung entgegen steht. Der Wert des Konzepts der Würde im Gegensatz zu einer reinen Leidvermeidung, von der Remele explizit sagt, sie reiche nicht aus und sei ein Fehler früherer Generationen gewesen, ist bei unserer Kampagne gegen die Gatterjagd zu erkennen. Was, so könnte man argumentieren, sei dort das zu vermeidende Tierleid, wenn man das Gatter immer größer mache und die Jagdart möglichst schonungsvoll? Ganz einfach: Tierleid ist nicht alles, worum es geht. Es verletzt die Würde eines Tiers, in einem umzäunten Gelände ausschließlich für den Zweck gehalten zu werden, zur Unterhaltung von Jagdgästen abgeschossen zu werden, egal wie groß die Umzäunung ist und auf welche Weise der Abschuss geschieht. Leidvermeidung ist hier sekundär. So erspart man sich auch Diskussionen z.B. darüber, ob ein Stier in der Kampfarena in den 20 Minuten seines Leidenswegs mehr leidet, als ein Maststier in einer Vollspaltenbucht in Österreich. Es ist diametral gegen die Würde des Stiers, für die Unterhaltung der Massen derart behandelt zu werden und Punkt. In meinen Augen ist das überzeugend.
Remele verliert sich nicht in Diskussionen über Bibelzitate und ob der historische Jesus Christus, wenn es ihn denn gegeben hat, vegetarisch oder gar vegan gelebt hat oder nicht. Für ihn folgt aus dem Gesamtkonzept des selbstlosen Wirkens von Jesus ohne jeden Zweifel, dass man, wenn man ihm heute folgen will, zumindest in unserer Gesellschaft vegan wird leben müssen. Und Remele identifiziert diesbezüglich auch einen Wandel an der Spitze der katholischen Kirche, wenn er Papst Ratzinger zitiert, der von der Degradierung der Nutztiere zur Ware sprach, oder den neuen Papst Franziskus, der jedem Lebewesen einen intrinsischen Wert zuordnet. Remele formuliert auf dieser Basis den Katechismus von 1992 neu: Der Mensch darf Tiere nur für seine Zwecke nutzen, wenn das ultima ratio, die letzte Möglichkeit ist, ihn vor dem Erfrieren, dem Verhungern oder einer Erkrankung zu bewahren. Für ihn gibt es den „vegantarischen Imperativ“ für ChristInnen: Lebe vegan/vegetarisch, soweit es geht. Auch wenn Remele anerkennt, dass in anderen Teilen der Erde oder unter anderen Bedingungen durchaus eine Subsistenzjagd oder eine kleinbäuerliche Tierzucht zum Überleben notwendig sein kann und dann gerechtfertigt ist.
Doch derartige Einwände dürfen nicht durch einen „pragmatischen Realismus“ den Idealismus verwässern: „Solange nicht klar und deutlich gezeigt werden kann, dass die Tötung von bestimmten Tieren die einzige Möglichkeit ist, eine ökologische Katastrophe beträchtlichen Ausmaßes zu verhindern, und solange nicht sämtliche Möglichkeiten alternativer, weniger gewalttätiger Lösungsmöglichkeiten erwogen und erprobt worden sind, darf kein Tier für das – im letzten nie völlig eindeutig zu definierende – Wohl eines Ganzen geopfert werden. [… Jagd] darf – im Gegensatz zu heute üblichen Jagdgepflogenheiten – aus tierethischer Sicht immer nur letztes Mittel (ultima ratio) sein, das im Idealfall nie zum Einsatz kommt, weil bereits weniger gewalttätige Methoden zur Kontrolle oder Reduktion überhöhter Bestände von freilebenden Wildtieren wie Empfängnisverhütung oder eine Veränderung der Umweltbedingungen den gewünschten Erfolg bringen.“
Seit 1997, so macht Remele deutlich, ist hier auch die Einstellung der katholischen Kirche zu Tierversuchen adaptiert worden. Im Katechismus – zumindest in der lateinischen Version – wurde die Feststellung, dass Tierversuche ethisch akzeptabel seien, weil sie zur Heilung von Menschen beitragen, geändert zur Feststellung, dass Tierversuche ethisch akzeptabel seien, wenn sie zur Heilung von Menschen beitragen. Man könnte das als einen klaren Auftrag, einen vernünftigen Kriterienkatalog für die Schaden/Nutzen Abwägung bei Tierversuchen einzuführen, sehen.
Remele plädiert letztlich für Konsistenz innerhalb der christlichen Tradition, für eine „konsistente Ethik des Lebens“, die nicht nur die soziale Frage in der menschlichen Gesellschaft, sondern auch das Mensch-Tier Verhältnis umfasst. Dabei möchte er aber nicht mit Verboten und Strafdrohung vorgehen, um die Menschen zu veganisieren. Stattdessen sei der reformistische Weg über strengere Tierschutzbestimmungen, Umlenkung der Subventionen, eine Fleischsteuer und eine umfassende, staatlich gestützte tierethische Bildung zielführend. Doch statt diese Entwicklung auf demokratischem Wege zu ermöglichen, würde, so Remele, der Staat immer härter gegen NGOs vorgehen. Als jemand, der in diesem Konflikt an vorderster Front steht, muss ich ihm da zustimmen.