5. November 2024

Ein Symposium über Kriterienkataloge zur Schaden/Nutzen Abwägung bei Tierversuchen

Bild0038Anfang 2012 haben wir in zahlreichen Workshops mit internationalen ExpertInnen, die wir dafür eingeladen hatten, ein Ziel für unsere Tierversuchskampagne erarbeitet. Übereinstimmend kamen wie dabei zu dem Schluss, dass wir einen objektiven Kriterienkatalog für eine ethische Schaden/Nutzen aller Tierversuchsanträge fordern müssen, der die Zulässigkeit dieser Versuchsvorhaben analog zum Tiergerechtheitsindex (TGI) in der Nutztierhaltung festlegt. Und dieses Ziel konnten wir vollständig umsetzen. Österreich ist jetzt das einzige Land der Welt, das einen solchen Katalog für diesen Zweck vorschreibt. Allerdings gibt es noch keinen, und deshalb wurde das Wiener Messerli-Institut damit beauftragt, bis Ende 2015 einen zu erstellen, der ab Mitte 2016 für alle Tierversuchsanträge vorgeschrieben wird. Und um dieses Vorhaben einzuleiten wurde am 27. März 2013 an der Vet Med Uni Wien ein hochkarätig besetztes Symposium zu dieser Frage abgehalten.

Etwa 50 TeilnehmerInnen aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, Holland, England, Portugal, der Slowakei, Schweden, Dänemark und den USA kamen, um zur Diskussion beizutragen. Das gesamte Essen am Symposium war vegan, selbst die Kuchen und die (Soja-)Milch in der Kaffeepause waren ohne tierliches Alternativangebot. Unter den TeilnehmerInnen befanden sich auch einige, die bereits Kriterienkataloge entwickelt und in der Praxis getestet haben.

Das erste wichtige Thema war die Frage, ob die Bewertung jedes Kriteriums im Fragenkatalog numerisch oder nur qualitativ erfolgen solle. Beim TGI in der Nutztierhaltung wird jedem Aspekt der Haltung, wie z.B. mit oder ohne Stroh, ein Zahlenwert zugeordnet, und eine Haltung mit mehr als 28 Punkten gilt dann als tiergerecht und z.B. für Biostandards als akzeptabel. Ähnlich unsere Idee für Tierversuche, sodass der Kriterienkatalog zuletzt einen Zahlenwert liefert, der die Schaden/Nutzen Abwägung für den jeweiligen Versuch charakterisiert. Ab einem gewissen cut-off wäre dann der Tierversuch (momentan) ethisch zulässig, darunter unzulässig. Vortragende aus Holland und der Schweiz wollten eher ohne Zahlenwerte auskommen, sondern den Katalog mehr als Hilfe für die TierexperimentatorInnen selbst auffassen. Diese würden nämlich einen Katalog nicht annehmen, wenn er potenziell das objektive Ergebnis liefern könnte, dass ihr Tierversuch unethisch ist.

Doch zahlreiche andere Vortragende wiesen darauf hin, dass der Kriterienkatalog in Österreich ja gesetzlich vorgeschrieben sein wird und damit nicht mehr vom good-will der TierexperimentatorInnen abhängt, wie eben in Holland und der Schweiz. Das sei eine ganz andere Ausgangslage. Die Angst der AntragstellerInnen vor Ablehnung ihres Tierversuchs aufgrund einer objektiv-numerischen Zahl, die die ethische Abwägung ihres Versuchs charakterisiert, wäre dann ja eher ein Argument für die numerische Evaluierung, weil ein Kriterienkatalog, der keinen Versuch für unethisch erklärt, offenbar sein Ziel verfehlt. An dieser Stelle machte ich in einer Wortmeldung deutlich, dass die meisten Tierversuche, wenn sie an die Öffentlichkeit gelangen, einen Skandal auslösen, was darauf hinweist, dass die Tierversuchspraxis mit der ethischen Mehrheitsmeinung längst nicht mehr im Einklang ist. Numerische Wertzuweisungen im Rahmen eines Kriterienkatalogs wären zwar notgedrungen subjektiv, aber sie könnten die ethische Einstellung der Gesellschaft widerspiegeln und auch im Laufe der nächsten Jahrzehnte an Änderungen dieser Einstellung adaptiert werden. Die Frage der ethischen Bewertung den TierexperimentatorInnen selbst oder gar einzelnen BeamtInnen der Behörde zu überlassen, würde die Schere zwischen Praxis und gesellschaftlicher Erwartung nur noch weiter öffnen.

Es wurde aber auch die Frage von Tierschutz im Verfassungsrang erörtert. Die Abwägung von Interessen sei ein normaler Vorgang in der juristischen Praxis, wenn z.B. die Umweltauswirkungen eines neuen Kraftwerks mit dessen Energieoutput und der Wirkung, neue Arbeitsplätze zu schaffen, abgeglichen wird. Im Fall der Tierversuche gibt es kein anerkanntes Interesse der Tiere, nicht zu leiden oder benutzt zu werden. Tiere sind vor dem Gesetz Sachen. Daher ist die ethische Schaden/Nutzen Abwägung bei einem Tierversuch eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an Tierschutz gegenüber dem öffentlichen Interesse an einem funktionierenden Gesundheitswesen und an Wissenszuwachs einerseits, und gegenüber dem privaten Interesse der einzelnen WissenschaftlerInnen auf die Ausübung der Freiheit der Wissenschaft andererseits. Letztere ist aber als Grundrecht verfassungsrechtlich geschützt und hat daher gegenüber dem öffentlichen Interesse an Tierschutz solange Vorrang, solange dieses nicht ebenfalls im Verfassungsrang steht. Das neue Tierversuchsgesetz zwinge uns in Österreich also dazu, Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen. Ich fürchte nur, dass die politisch Verantwortlichen in der ÖVP von dieser Botschaft nicht erreicht werden.

Breiter Raum wurde der Diskussion über Ethikkommissionen gewidmet, die in allen anderen Ländern mehrheitlich über Tierversuchsanträge abstimmen. In Österreich können die Behörden für ihre Entscheidung Expertenwissen beiziehen, es gibt aber keine Kommissionen, die jeden Tierversuchsantrag diskutieren und ein Mehrheitsvotum vorlegen. Das neue Tierversuchsgesetz sieht lediglich vor, dass die Behörden Kommissionen gründen können, wenn sie wollen. In Schweden dagegen gibt es seit Jahrzehnten nicht nur solche Kommissionen, sondern auch die Vorschrift, dass diese mit mindestens 50% Nicht-WissenschaftlerInnen, darunter auch TierschützerInnen, besetzt sein müssen, um der Meinung der Gesellschaft zu entsprechend. Deshalb werden auch alle Tierversuchsvorhaben detailliert veröffentlicht. Von einer derartigen Regelung sind wir in Österreich Lichtjahre entfernt.

Als Resümee des Symposiums wurde die Frage diskutiert, was idealerweise von einem funktionierenden Kriterienkatalog zu erwarten ist. Einig war man sich, dass in allen Ländern die tatsächliche Praxis der Vorstellung einer ehrlichen ethischen Abwägung weit hinterher hinkt. Während eine Handvoll SprecherInnen der Tierversuchsindustrie, die auch anwesend waren, dafür plädierte, die Entscheidung dem subjektiven Gewissen der TierexperimentatorInnen zu überlassen, sah die Mehrheit das Ideal darin, eine offene und öffentliche Diskussion über die ethische Einschätzung aller Tierversuche zu erreichen. Es müsse eine Transparenz geben und die Entscheidung über die Zulässigkeit einzelner Versuche sollte letztlich eine sein, die bei Berücksichtigung aller Interessen die Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft widerspiegelt.

Ein Gedanke zu “Ein Symposium über Kriterienkataloge zur Schaden/Nutzen Abwägung bei Tierversuchen

  1. Was Tierschutz in der Verfasung in diesem Zusammenhang argumentativ und faktisch bewirken kann, erklärt der Bremer Gesundheitssenator am Beispiel des Rechtsstreits gegen die Affenversuche der Uni Bremen.

    Er wird gefragt:

    “Das Problem Ihrer Tierschutzbehörde ist ja, dass sie vor 15 Jahren die Experimente genehmigt hat, danach hat der Senat die Investitionen für Kreiter freigegeben. Und nun muss dieselbe Behörde begründen, dass damit Schluss sein soll.”

    und begründet die Haltung seiner Behörde mit enem Satz:

    “Inzwischen ist der Tierschutz ins Grundgesetz aufgenommen worden.”

    Der Interviewer präzisiert:

    “Vorher bewertete der Forscher allein, ob seine Versuche ethisch zu rechtfertigen sind?”

    darauf der Senator:

    “Die Genehmigungsbehörde konnte nur prüfen, ob die im Rahmen der Experimente möglichen Verfahren zum Schutz der Tiere gewährleistet waren. Es ging nicht um die Abwägung des Fortschrittspotentials der Versuche und dem Tierschutz selber. Das ist nach unserer Auffassung aber jetzt der Fall.”

    Als Beispiel dafür, wie der Verfassungsrang des Tierschutzes dafür sorgen kann, dass sich die Perspektiven, aus denen über die Rechtmäßigkeit eines Tierversuchs geurteilt werden muss, geändert haben, finde ich den Kampf der Bremer Behörde ebenso spannend wie eindrucksvoll. Nun kommt es darauf an, ob das Bundesverfassungsgericht der Rechtsauffassung folgen wird. Das würde Zeichen setzen.

    Quelle: http://taz.de/TIERVERSUCHE/!113820/

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