Das Buch heißt “Verlorene Welten”, ist 2019 in zweiter Auflage im Klett-Cotta Verlag erschienen und vom Schweizer Aram Mattioli, Universitäts-Professor für Neueste Geschichte an der Uni Luzern, geschrieben. Der Spoiler gleich zu Beginn: ein großartiges Buch, das bei weitem Beste über die Geschichte der Indianer_innen Nordamerikas, das ich bisher gelesen habe. Ich kann es nur wärmstens empfehlen. Und zwar nicht, weil es so spannende Wild-West Geschichten erzählt, sondern weil es in deutlichen Worten klar macht, dass die Unterdrückung und weitgehende Vernichtung der Ureinwohner_innen Nordamerikas ein ungeheuerliches Verbrechen war und ist.
Zu Anfang reflektiert der Autor über 3 Seiten hinweg, welche Bezeichnungen er verwenden wird und welche nicht. So empfindet er das Wort “Stamm” als abwertend und ersetzt es durch Nation. Auch das Amerikanische Wort “Indian” oder “American Indian” ist für ihn abwertend, deswegen verwendet er First Peoples, Native Americans oder das deutsche Wort “Indianer”. Letzteres wurde in seinen Augen nie abwertend verwendet. Deshalb bleibe auch ich bei “Indianer_innen”.
Das Buch rekonstruiert sehr schön den Werdegang der Westexpansion durch die USA. Unter dem englischen König wurden die Appalachen 1763 als westliche Siedlungsgrenze festgelegt. Nach der Revolution und der Unabhängigkeitserklärung der USA, legte die neue Regierung den Mississippi als neue Grenze fest. Bis 1824 wird ein Indianerbüro im Kriegsministerium gegründet. Zum dem Zeitpunkt sah man die Indianer_innen also als feindliche Macht außerhalb des eigenen Staates an. Mit dem “Indian Removal Act” legte man sich auf die Linie fest, die Indianernationen auf amerikanischem Staatsgebiet über den Mississippi nach Westen zu deportieren.
Diese Deportationen waren richtige Todesmärsche über tausende Kilometer. Wer nicht mithalten konnte, wurde erschossen. Die Cherokee z.B. verloren auf diesem Marsch 1838 ein Viertel ihrer Nation. Auf diese Weise gründete man das “Indian Territory” im heutigen Bundesstaat Oklahoma, das schließlich am 22. April 1889 durch den ersten “Oklahoma Land Run” erst wieder unter weißen Siedler_innen aufgeteilt wurde. Das ist ein Vorgang, der ständig wiederholt wird: man gibt einer Indianernation per Vertrag eine Region, die zwar deutlich kleiner als ihr eigentliches Gebiet war, aber wo sie immerfort würden leben können. Und dann verkleinert man diese Region zu Reservaten, die später weiter verkleinert werden, bis die Indianer_innen völlig verelenden.
Im Goldrausch von Kalifornien, der 1849 beginnt, kommen die Indianer_innen der Pazifikküste unter die Räder. Ein Mob von Neusiedler_innen massakriert sie ohne jede staatliche Kontrolle. Mehrere Bundesstaaten erlassen sogar Gesetze, dass Weiße Indianer_innen jederzeit ungestraft töten dürfen, ja es wird sogar Kopfgeld auf Indianer_innen ausgesetzt. Wer den Beweis der Ermordung eines Indianers oder einer Indianerin erbringt, bekommt das Geld. Und Soldaten der US-Armee werden mit Preisgeldern belohnt, wenn sie an Massakern teilgenommen haben.
1853 schließlich entsteht die Idee, alle Indianernationen in Reservate zu zwängen. Das Indianerbüro wird vom Kriegs- ins Innenministerium verlegt. Die Indianer_innen werden also von jetzt ab als innerstaatliches Problem gesehen. Mit dem Homestead Act 1862 von Präsident Lincoln beginnt die radikale Unterwerfung der Prärie-Indianer_innen, die 1886 endet. Die US-Armee verübt dennoch am 29. Dezember 1890 ein letztes Massaker an einer Indianernation, den Lakota am Wounded Knee.
Gab es um 1500 in Nordamerika noch etwa 10 Millionen Indianer_innen und keine Weiße, so waren es 1750 nach zahlreichen großen Pandemien nur noch 1,5 Millionen Indianer_innen und bereits 1,25 Millionen weiße Siedler_innen. Im Jahr 1900 schließlich lebten nur mehr 237.000 Indianer_innen auf 2,3 % der Fläche der USA, während 76 Millionen Weiße den Rest beanspruchten. 1907 beantragten tausende Indianer_innen beim Kongress die Gründung eines eigenen indianischen Bundesstaates mit dem Namen “Sequoyah”. Doch Präsident Theodore Roosevelt, der Cowboy als Präsident und große Indianerhasser, lehnte ab. Er hatte 1886 in einer öffentlichen Rede gemeint: “Ich gehe nicht so weit zu sagen, nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer, aber das trifft auf 9 von 10 von ihnen zu, wobei ich mir den 10. lieber nicht zu genau anschaue.”
Wildes versus zivilisiertes Leben
Die Verfassung der USA von 1776 gilt als weltweit erste Menschenrechtsdeklaration. Und dennoch waren eigentlich und unausgesprochen nur Weiße gemeint. Es gab weiterhin Sklaverei von Schwarzen und es gab Massaker an Indianer_innen, die nicht als Personen gesehen wurden. Indianer_innen galten vor Gericht z.B. nicht als Zeug_innen. Die Begründung dafür war ein tief sitzender Rassismus, der in Essenz Indianer_innen (und Schwarze) mehr mit Tieren als mit Menschen gleich setzte. Der “primitive” Mensch im wilden Naturzustand versus der “höherentwickelte” Mensch in der Zivilisation.
Gutmeinende, aufgeklärte Bürger_innen der USA sahen die Lösung des “Indianerproblems” in der Umerziehung zum zivilisierten Menschen. Tausende Indianerkinder wurden mit Gewalt ihren Eltern entrissen und in verschiedenen Internaten quer durch die USA zwangserzogen. Man schnitt ihnen die Haare – weil anständige Männer kurze Haare haben -, man steckte sie in Anzüge, man zwang sie nur noch englisch zu sprechen, man drillte sie militärisch, man bestrafte sie mit Gewalt und man versuchte ihnen elementare Bildung einzutrichtern. Allerdings ging man davon aus, dass sie eh nichts verstehen würden und in der Gesellschaft nicht aufsteigen könnten, und so beließ man es bei einem Minimum.
Dieser Ethnozid (O-Ton Autor Mattioli), dieser Versuch, das Indianische in den Indianer_innen zu töten und sie zu zwangsassimilieren, führte zu furchtbaren Tragödien, Selbstmorden und vielen missbrauchten Kinderseelen. Auf jeder dieser Schulen mussten große Friedhöfe für die gestorbenen Schüler_innen errichtet werden.
In der Tierrechtsbewegung gibt es das Ansinnen, alle Wildtiere zu zivilisieren, um die Gewalt unter den Tieren zu reduzieren. Diese Einstellung dürfte jener gegenüber den Indianer_innen damals ähnlich sein. Zweifelsohne wollten die Indianer_innen diesen “Segen” der Zivilisation nicht. Ich gehe davon aus, dass es bei Wildtieren nicht anders ist.
Die Wildnis zivilisieren
In den publizierten Meinungsäußerungen damals schwingt ständig die Ansicht mit, die Wildnis sei lebens- und menschenfeindlich, sie müsse daher zivilisiert werden. Die große Prärie z.B. wurde gezielt in Acker- und Weideland umgewandelt, worauf man total stolz war. Endlich war das Land produktiv und nutzbar. Dafür mussten neben den Indianer_innen auch z.B. die Bisons und die Wölfe sterben. Die Bisons schoss man systematisch zusammen. Von zig Millionen noch vor 200 Jahren blieben lediglich 800 übrig, die man in einem rasch eingerichteten Reservat zu schützen begann. Aber nicht, um Wildtiere oder gar eine Wildnis zu erhalten. Sondern mit dem klaren Kalkül, sie als jagdbares Großwild für die Jägerschaft zu verfügbar zu halten. Präsident Theodore Roosevelt war stolzer Großwildjäger und auf ihn ging diese Idee zurück.
Dasselbe hat man in Österreich gemacht, ein paar 100 Jahre davor. D.h. man hat die Wildnis zivilisiert, indem man den Wald in den Bergen gerodet, Bison, Auerochse, Elch und Wisent, und später auch Luchs, Wolf und Bär ausgerottet und Almen errichtet hat. Und heute ist man darauf immer noch stolz.
Für mich ist der Glaube daran, dass wenigstens heute und zumindest in unseren reichen Ländern unsere Grundrechte vom Staat geschützt sind, heftig angeschlagen worden, als ich vor einigen Jahren vom Tierschutzprozess erfahren habe. Und zerbrochen ist er, als der Europäische Gerichtshof abgelehnt hat, über die Schuldenübernahme des österreichischen Staates von deinen 600.000 Euro Kosten zu entscheiden, die das unrechtmäßig geführte Beweis- und Gerichtsverfahren nötig gemacht haben, um privat zu entlasten, was der Staat zu Unrecht angeklagt und unrechtmäßig ermittelt hat, um Wirtschaftsinteressen nachzugeben. Seitdem glaube ich, wir alle in den reichen Ländern gehen unser Leben lang auf einer sehr dünnen Eisdecke spazieren, die kluge Köpfe über schlechten Herzen auf einem riesigen Blutpudding eingefroren haben, den sie in einen globalen Kühlschrank gestellt haben, als könnte man ihn für immer pasteurisieren: Aber es gibt kein für immer, der Kühlschrank taut und die Eisdecke schmilzt.
“Gab es um 1500 in Nordamerika noch etwa 10 Millionen Indianer_innen und keine Weiße, so waren es 1750 nach zahlreichen großen Pandemien nur noch 1,5 Millionen Indianer_innen und bereits 1,25 Millionen weiße Siedler_innen.”
Für die Pandemien, die damals tatsächlich Zigtausende Menschen töteten, hätten aber die Weißen nichts gekonnt, es waren ja nicht einmal Impfungen erfunden. Bartolomé de Las Casas, Bischof von Chiapas in Mexiko, beschreibt aber gezielte Tötungen von Indiandern: “Ein königlicher Beamter, der 300 Indios zugeteilt [!] bekam für die Arbeit in den [Silber-]Gruben, hatte nach drei Monaten nur noch 270 davon übrig – da gab man ihm wiederum dieselbe Zahl… in drei oder vier Monaten starben mehr als 7000 Kinder.” (Strosetzki, Christoph, Der Griff nach der neuen Welt”, Frankft am Main 1990, S. 274.) Die Indianer starben vor allem, weil die Weißen mit ihren modernen Waffen und Rüstungen den Einheimischen militärisch überlegen waren und diese Waffen gegen die Indianer einsetzten. Und der königliche Geschichtsschreiber der Spanier, Juan Gines de Sepúlveda, begründet dieses Vorgehen: “Da die Indianer ihrer Natur nach Sklaven, Barbaren, rohe und grausame Gestalten sind, lehnen sie die Herrschaft der Klugen und Mächtigen ab, anstatt sie zu ihrem eigenen Besten zuzulassen, wie es der natürlichen Gerechtigkeit entspricht.” (Konetzke, Richard, Lateinamerka seit 1492, S. 8) Ganz ähnlich begründet Aristoteles in der Antike die Herrschaft der Weißen über die Sklaven, und die der Männer über die Frauen.
“Menschenrechte” hat es in der europäischen Kultur niemals gegeben. Als sie erstmals deklariert wurden, waren sie nichts anderes als eine Verschleierung (Projektion) der eigenen mörderischen Handlungen der Weißen an andersfarbigen Menschen. Und bis heute hat sich im Wesentlichen nichts daran geändert – Vergewaltigungen und Morde an Indianern werden zu einem irre geringen Prozentsatz aufgeklärt, wenn man sie mit denen an Weißen vergleicht, bei Femiziden ist der Unterschied besonders horrend. Das sogenannte Menschenrecht auf Leben war von seinem Ursprung in unsere Kultur her nichts anderes als die Verschleierung des Unrechts, zum eigenen Vorteil andersartige Menschen auszubeuten und zu töten.
Und wenn der ADFC der deutschen Regierung vorschlägt, für die Coronazeit ein Tempolimit auf Autobahnen und Bundesstraßen einzuführen, weil dann (Prozentangaben waren da, fehlen nur mir hier) weniger Schwerverletzte durch den Straßenverkehr in Intensivstationen behandelt werden müssen und so mehr Betten für Corona-Schwerverläufe frei bleiben, gibt es genauso wenig wie ein unbedingtes Recht auf Leben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Ich leide doch höchstens mehr, nicht weniger, wenn ein menschlich konstruiertes und gelenktes Auto mich körperlich ruiniert, als wenn ein Virus das macht – und es ist doch genauso schlimm, wenn ich 2019 wegen hoher Geschwindigkeit zusammengefahren werde, als wenn dies 2020 geschieht. Das Recht auf Leben oder auf körperliche Unversehrtheit wird nicht nur den Tieren abgesprochen, diese Rechte waren auch als Menschenrechte von Anfang an und sind bis heute erlogen.