5. November 2024

Kritik an Shaun Ellis’ Narrativ als Wolfsmensch

Shaun Ellis setzt sich für Wölfe ein. Das finde ich schon einmal durchgehend positiv. Er hat offenbar auch Jahre mit gefangenen Wölfen im Gehege verbracht, mit ihnen rohes Fleisch gegessen und versucht, sich wie sie zu verhalten. Auch das finde ich zunächst grundsätzlich positiv, sich so auf Tiere einzulassen und dadurch von ihnen und über sie zu lernen, indem man sich auf Augenhöhe begibt. Dennoch muss ich sagen, dass sich mir beim Lesen von Shaun Ellis’ Buch “Der mit den Wölfen lebt” der Magen umgedreht hat.

Wirklich entsetzt hat mich, vermutlich besonders, weil ich gerade sehr intensiv mit meinen Kindern zusammenlebe, sein Umgang mit seinen Kindern. Er beschreibt locker drauflos, wie er mit 22 Jahren mit seiner Freundin ein Kind zeugt, dieses Wesen vollständig seiner Freundin überlässt und einfach geht. Und sein Kind nie mehr wieder sieht. Am Buchende, er ist bereits Mitte 40, sinniert er, wie es wäre, jetzt sein Kind wieder zu sehen. Unfassbar. Mehr als 10 Jahre später zeugt er wieder 4 Kinder mit einer Partnerin, und wieder kümmert er sich nicht, geht über Jahre weg, lebt in einem Wolfsgehege – und klagt gerichtlich auf ein Besuchsrecht, das ihm mit einmal jedes zweite Wochenende gewährt wird. Als Vater, der 20 Monate in Karenz war und sich täglich um seine Kinder kümmert, ist mir diese fahrlässige Vorgehensweise zutiefst zuwider. Ich kann sie auch nicht begreifen. Wie hohl klingt es dann, wenn Shaun Ellis davon schwärmt, wie das Wolfsrudel seine Familie ist und er von den Wölfen gelernt hat, was Familiensinn ist. Zu spät.

Eine gewisse Form der Angeberei und schwülstiger Schwärmerei zieht sich durch das gesamte Buch. Zufälligerweise kenne ich einiges von dem, was er beschreibt, aus eigener Erfahrung, und weiß daher, dass er ein ganz falsches Bild zeichnet. Es fängt schon damit an, dass er seine Kindheit in Norfolk in England so beschreibt, als wäre er in der Wildnis aufgewachsen. Ich habe 8 Jahre in East Anglia neben Norfolk gelebt. Norfolk ist dem Weinviertel nicht unähnlich. Von Wildnis absolut keine Spur. Felder, Ackerflächen, vielleicht Hecken für die Fasanjagd und ganz winzige Wäldchen zur Fuchsjagd. Und überall Straßen. Ich glaube in Norfolk ist nirgendwo eine Straße weiter als 1 km entfernt. Wildnis ist anders.

Dann verpflichtet er sich 7 Jahre in irgendeiner Spezialeinheit im Heer, verbringt lange an verschiedenen Stellen auf der Welt und schießt in Nordirland auf Menschen, vermutlich auf Demonstrant:innen. Wirklich ekelhaft empfinde ich, mit welchem Stolz er erzählt, dass er ohne irgendwelche Probleme Tiere umbringen kann. Schon als Bub in Norfolk hätte er seine Familie dadurch ernährt, dass er (ausgesetzte Zucht-)Fasane gejagt und Kaninchen mit Fallen gefangen habe. Beim Heer hätten die Soldat:innen Kaninchen zur Pflege bekommen, die sie wenig später auf Befehl töten sollten. Das würde sie abhärten, schwärmt Ellis. Aber seine Kamerad:innen hätten es nicht zustande gebracht, außer er, der tapfere Held, hart wie Kruppstahl hat er die Kaninchen getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bewundere ihn dafür nicht.

Und die Freundschaft – er spricht sogar hochtrabend von Bruder und Familie – zu amerikanischen Indianer:innen darf natürlich auch nicht fehlen. Er geht in die USA zu einem Wolfsprojekt nach Idaho in den Rocky Mountains. Der Teil mag ja noch stimmen. Aber dann kommts: er behauptet, er geht von dort 2 Jahre lang in die Wildnis, ohne Zelt, Schlafsack oder Feuer, isst dort nur rohes Kaninchenfleisch von Tieren, die er mit einem Stück Draht fängt, ab und zu auch ein paar Beeren, die er, ohne sie zu kennen, verspeist (er wartet nach dem Verzehr, um zu schauen, ob sie giftig sind) und freundet sich dann mit einem Wolfsrudel an. Er wird Teil des Rudels und vom Rudel mit rohem Fleisch ernährt. Nach 2 Jahren kehrt er in die Zivilisation zurück. Deshalb sei er der “Wolfman”, der Wolfsmensch.

Es gibt so viele Aspekte, die beweisen, dass diese Geschichte erlogen ist. Es fängt schon damit an, dass es in den Rockies keine Kaninchen gibt, die er angeblich ständig gegessen haben will. Das mit den Kaninchen hat er aus Norfolk, da gibt es wirklich sehr viele. Aber in den USA gibt es keine. Das hat er nicht bedacht. Zweitens kennt er offenbar die Wildnis nicht, sonst würde er nicht sagen, wie er das im Buch tut, dass er immer ganz leise sein musste, damit keine großen Beutegreifer auf ihn aufmerksam würden, die ihn sonst gegessen hätten. Was für ein Unsinn! Keine großen Beutegreifer der nördlichen Hemisphäre essen Menschen. Im Gegenteil, wenn man keinen Konflikt mit einem Bären will, dann verhält man sich extra laut, damit die Bären einen früh genug wahrnehmen und abhauen. Und das Schlimmste, was man bei Bärenpräsenz tun kann, ist tote Kaninchen herumliegen haben. Das riechen die Bären und dann kommen sie wirklich. Aja, und einmal drängt ihn ein (wilder!) Wolf in einen hohlen Baum, und er versteht nicht warum, und danach sieht er Bärenspuren und ist sich sicher, dass ihm der Wolf das Leben gerettet habe, weil ihn dieser Bär gegessen hätte. In den 2 Jahren draußen begegnet er sonst aber nie einem. Das sind alles Gschichtln, die einfach völlig falsch sind. Ich hatte schon viele Begegnungen mit wilden Bären und nie hat mich einer gegessen.

Er behauptet, dass er den Winter in den Rocky Mountains ohne jeden Schutz einfach so am Boden liegend verbringt. Also das kann er jemand anderem erzählen. Bei -20°C im Schnee liegen ohne Feuer, Schlafsack oder Zelt, und das ohne vernünftige Nahrung und den gesamten Winter hindurch, ist ein ausgemachter Blödsinn. Das ist dem Menschen schlicht und einfach nicht möglich. Und damit wird seine gesamte Erzählung als Mitglied eines Rudels wilder Wölfe völlig unglaubwürdig. Schade.

Er lebt dann jahrelang wieder in England und verbringt viele Tage, Wochen, Monate und Jahre im Wolfsgehege. Davon gibt es auch Filmaufnahmen. Das glaube ich ihm auch. Scheinbar sah er es aber als notwendig an, diese Nahbeziehung zu gefangenen Wölfen durch eine erfundene Geschichte mit wilden Wölfen aufzufetten, um die Aussagen über die Wölfe verallgemeinern zu können.

Seine Thesen zur strikten, ja angeborenen Hierarchie im Wolfsrudel, und die Anwendung davon auf Hunde, sind trotz seiner Erfahrung mit Wölfen haarsträubend. So behauptet er, dass ein Hund angeboren ein Alpha-, Beta- oder Omega-Wolf sei und entsprechend handle, und wenn er im Familienanschluss nicht daran angepasst leben kann, dann würde es zu Problemen kommen. Man solle also immer zuerst checken, ob ein Hund Alpha, Beta, Mittelding oder Omega ist und sich danach den Hund aussuchen. Ja, und entsprechend dieser Hierarchie brauchen Hunde auch jeweils andere Teile der Innereien von Schlachttieren zum Essen. Ein totaler Unsinn.

Shaun Ellis ist kein Wissenschafter, der mit einer Fähigkeit zur Reflektion sich und die Wölfe betrachtet. Er will wie die Wölfe sein, isst mit ihnen tote Tiere und knurrt sie an oder präsentiert seinen Hals als Unterwerfungsgeste. Er sagt, dass Wölfe immer nur das essen, was sie gerade brauchen, und deshalb würden sie manchmal Nutztiere reißen, weil sie gerade spezifisch die Notwendigkeit haben, genau deren Fleisch zu bekommen. Das sind lauter so Bauchgefühlstories, die er mit der Autorität eines “Wolfsmenschen” erzählt. Und das Meiste davon ist einfach völlig falsch, wie uns die großen Wolfsexpert:innen dieser Welt erklären.

Was bleibt ist das Faktum, dass er sehr lange mit verschiedenen gefangenen Wölfen zusammen gelebt hat und sie ihn nie verletzt oder getötet haben. Das ist auch ein interessantes Ergebnis. Soviel dazu, dass Wölfe reißende Bestien sind.

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