Ich bin sehr positiv beeindruckt: das New Scientist (Ausgabe vom 13. Mai 2017, Seiten 28-31) hat etwas wirklich Vernünftiges zum Phänomen des Bewusstseins geschrieben. Üblicherweise dümpelt dieses Blatt in Sachen Bewusstsein im seichten Fahrwasser des extremen Anthropozentrismus herum. Oder es quillt über mit technischen Definitionen und einer unkritischen Bewunderung neuronaler Netze und künstlicher Intelligenz als im Wesentlichen dasselbe Phänomen. Doch diesmal ganz anders: wir betreten Neuland.
Es beginnt schon einmal damit, dass mit dem Vorurteil aufgeräumt wird, Bewusstsein sei durch hochkomplexe mentale Prozesse definiert, wie z.B. durch das Selbst-Rekurrieren oder die Abstraktion vom Hier und Jetzt. Nein, steht hier: „If you ask yourself, what are you conscious of, you see colours, you smell coffee, you feel your aches and pains“. Erinnert mich an meine Ansicht, dass Zahnschmerz das Paradebeispiel von Bewusstsein ist. Ich fühle Zahnschmerz und habe sonst keinerlei Denkprozesse oder Wahrnehmungen. Das muss man erklären, wenn man Bewusstsein erklären will.
Dann werden in diesem Artikel 3 Arbeitsgruppen mit ihren jeweiligen Forschungsansätzen und Ergebnissen vorgestellt:
„Hedonic evaluation“
New Scientist zitiert Björn Grinde vom Norwegischen Institut für Gesundheit in Oslo. Er meint, eine subjektive Bewertung, ob etwas gut oder schlecht für mich sei, würde den Beginn von Bewusstsein darstellen. Grinde nennt das „hedonic evaluation“ und findet es bei allen Säugetieren, Vögeln und Reptilien. Diese Tiere würden emotionale Reaktionen zeigen, wie beschleunigten Herzschlag und erhöhte Körpertemperatur, wenn sie von Menschen berührt werden. Bei Fischen und Amphibien sei das nicht so. Zusätzlich hätten die erstgenannten Tiergruppen viel mehr Rezeptoren für Dopamin im Gehirn, ein Neurotransmitter, der eng mit positiven Gefühlen bei Menschen assoziiert wird. Grinde glaubt daher, dass Bewusstsein etwa vor 300 Millionen Jahren entstanden ist, als der gemeinsame Vorfahre von modernen Säugetieren, Vögeln und Reptilien erstmals Land betreten hat.
„Selective attention“
Bruno van Swinderen von der Uni von Queensland in Brisbane, Australien, meint dagegen, dass die Essenz einer erlebten Subjektivität im Fokussieren auf ein Element in allen sensorischen Informationen besteht, der „selective attention“. Das zeige, dass ein Individuum aktiv seine Wahrnehmungen kontrolliert. Bewusstsein besteht darin, sich auf eine Sache bewusst zu konzentrieren. „Selective attention“ sei ein direkter Indikator von subjektiven Erfahrungen.
Um zu erforschen, bei welchen Tieren sich diese Eigenschaft findet, hat van Swinderen Elektroden in das Gehirn von Fruchtfliegen eingepflanzt und sie dann darauf trainiert, auf eine Videowand zu schauen. Die gezeigten Bilder hatten alle sehr spezifische Muster in der Gehirnaktivität der Fruchtfliegen. Nun wurde die Videowand so gebaut, dass sie die gesamte Fruchtfliege umschloss und gleichzeitig viele Bilder zeigte. Bei den Versuchen erwies sich nun, dass die Tiere gezielt immer nur eines der Bilder neuronal verarbeiteten und sich diesem aktiv zuwendeten. Die Gehirnaktivität war nicht eine Überlagerung aller gezeigten Bilder auf einmal. „Its like a spotlight. There’s a dynamic window of attention that’s moving around, and other competing objects are being supressed“, sagt der Wissenschaftler im New Scientist Interview. „The small fly brain really has a capacity for attention. That is, to me, the dawn of consciousness.“
Man könnte ebenso untersuchen, welche Tiere Schlaf benötigen, meint van Swinderen. Es zeige sich nämlich, dass genau jene Tiere, die eine „selective attention“ haben, auch schalfen müssen. Van Swinderen hat diese Fähigkeit bei Wirbeltieren, Insekten, Krebstieren und Oktopussen gefunden, nicht aber bei Seesternen, Würmern und Quallen. Zusätzlich fand van Swinderen heraus, dass Insekten und Wirbeltiere auf generelle Anästhetika völlig gleich reagieren. Die notwendige Konzentration, um eine Fliege oder einen Elefanten in Tiefschlaf zu versetzen, ist gleich, was darauf hindeute, dass der physikalische Prozess dahinter ein Ähnlicher sein muss. Umgekehrt benötigen Würmer eine 10-fache Konzentration, um inaktiv zu werden.
Van Swinderen stellt nun fest, dass der gemeinsame Vorfahre von Wirbeltieren, Insekten und Oktopussen ein einfacher Organismus war, der dem heutigen Plattwurm ziemlich ähnlich ist – ein Tier, das nach van Swinderens Kriterien ohne Bewusstsein lebt. Also müsste Bewusstsein evolutionär mindestens 3 Mal entstanden sein. Das wäre aber nachvollziehbar, weil sich alle 3 genannten Tiergruppen schnell bewegen und unvorhersehbaren Problemen gegenüber stehen könnten. Genau dann würde das Bewusstsein seine Qualitäten ausspielen und sei evolutionär bevorzugt.
„Unlimited associative learning“
Zuletzt wird Eva Jablonka von der Tel Aviv Uni in Israel zitiert. Sie meint, Bewusstsein zeige sich durch die Fähigkeit, verschiedene wahrgenommene Hinweise in eine einzelne Perzeption im Sinne eines Verstehens bzw. einer Vorstellung zu verweben, die mehr als die Summe ihrer Teile ist, und die dann zu einer Intention für Verhalten führt. Sie nennt das „unlimited associative learning“. Es würde zwar auch das Fokussieren auf eine Wahrnehmung voraussetzen, dazu aber noch die Fähigkeit, zwischen dem Selbst und der Umgebung zu unterscheiden, sowie verschiedene Wahrnehmungen in eine einzelne Perzeption umzuwandeln.
Diese Lernfähigkeit, so Jablonka, sei im Tierreich sehr weit verbreitet. Man finde sie jedenfalls bei allen Wirbeltieren (außer dem Neunauge), bei Insekten, Krebstieren, wenigen Weichtieren wie Oktopussen und, möglicherweise, bei Schnecken. Bei Würmern ist sie sich nicht sicher. Daraus schließt Jablonka jedenfalls, dass das Bewusstsein mehrfach entstanden sein muss, und zwar bereits vor 540 Millionen Jahren, während der Kambrischen Explosion, in Wirbeltieren und Insekten, und vermutlich 250 Millionen Jahre später bei Oktopussen. In der Kambrischen Explosion entstanden in kurzer Zeit im Wesentlichen alle Tiergruppen, die heute noch existieren. Jablonka spekuliert, dass die Entstehung von Bewusstsein mit dieser explosiven Entwicklung etwas zu tun haben könnte.
Schlussfolgerung
Ich lese hier zum allersten Mal, dass NaturwissenschaftlerInnen aufgrund ihrer Forschungsergebnisse der Ansicht sind, dass Insekten ein Bewusstsein haben. Ich erinnere mich noch gut an Diskussionen an biologischen Instituten vor 20 Jahren, bei denen meine KontrahentInnen – allesamt UniprofessorInnen – schlicht und einfach bestritten, dass Ratten ein Bewusstsein haben. Gut, dass ich keinen Honig esse. Schlecht allerdings, dass ich mit einem Auto fahre, das an lauen Sommerabenden zigtausende Insekten an einem einzigen Tag tötet.
Interessant auch, dass die WissenschaftlerInnen in ihren Interviews angeben, dass sie am Anfang ihrer Forschung davon ausgegangen sind, dass es Bewusstsein nur bei „höheren Wirbeltieren“ gäbe, wenn nicht nur beim Menschen. Schließlich fanden sie heraus, dass der Basismechanismus für Bewusstsein bei sehr vielen verschiedenen Tieren nachweisbar ist. „We’re not the centre of the universe“ ist daher der passende Schlusssatz dieses Artikels.
Ich fühle mich in meinen Thesen über Bewusstsein, die ich bereits 2004 im Rahmen meiner Dissertation geäußert habe, sehr bestärkt.
Ein Gedanke zu “Neues von der naturwissenschaftlichen Forschung nach Bewusstsein”