In der Schallaburg bei Melk in Niederösterreich läuft gerade eine Ausstellung über die 1970er Jahre in Österreich. Diese Ausstellungen – erst vor wenigen Jahren auch über die 1960er Jahre, aber auch über die Wikinger, Byzanz usw. – sind sehr empfehlenswert. Ich wurde in den 1970er Jahren sozialisiert, das waren meine Teens, da bin ich politisch erwacht. Ich entwickelte mich von einem 12 Jährigen voller Lausbubenstreiche zu einem 14 Jährigen mit politischem Engagement und kurz darauf mit großem Interesse für Immanuel Kant und Philosophie. Aber dieser Wandel spielte sich offenbar nicht nur in meinem Leben ab.
Die 1970er Jahren waren eine Zeit des Aufbruchs, in Österreich viel mehr als die 1960er. Einige Räume der Ausstellung auf der Schallaburg sind Kampagnen wie den – letztlich erfolgreichen – Hausbesetzungen in der Arena, dem WUK und dem Amerlinghaus, aber auch dem Feminismus, der sexuellen Revolution, der Emanzipation der Homosexualität und insbesondere der Friedensbewegung und dem Kampf gegen die Atomkraft gewidmet. Auch ich erinnere mich, dass es jedenfalls in Wien jedes Wochenende eine Demo gegeben hat, dass der Burggarten besetzt war, um die Rasenfreiheit zu erreichen, dass wir das Burgtheater und das Rathaus besetzt haben usw. Natürlich idealisiert man oft die Vergangenheit, aber damals war irgendwie schon viel mehr los als heute, politisch. Die Menschen waren total bereit, sich einzusetzen, sich zu befreien, die verkrustete Gesellschaft zu kritisieren und neue Wege zu gehen. Der Zivile Ungehorsam wurde auch für Österreich entdeckt, und die Auseinandersetzung mit der Polizei und die Medienarbeit mussten erst ausgetestet werden, es gab ja keine Erfahrungen.
Ich dachte damals, dass das die neue Zeit wäre. So also läuft Demokratie, ab jetzt kann es nur besser werden. Die Menschen werden aufwachen, sich organisieren, Widerstand leisten, die Gesellschaft abseits der politischen Parteien, eben außerparlamentarisch, zu gestalten beginnen. Aber irgendwie ist das dann doch nicht ganz so gekommen. Die engagierten Aktivismusgruppen wurden zu etablierten NGOs und institutionalisiert. Politisches Engagement kann man heute durch eine Mitgliedschaft bei diesen Vereinen, durch einen Obulus einfach delegieren. Damals waren vor allem die Studierenden der Motor der Umgestaltung, heute scheinen mir Studierende im ständigen Stress, in Angst um ihren Studienplatz, ja sogar im vorauseilenden Gehorsam in Angst um ihren späteren Arbeitsplatz, sich nicht wirklich politisch engagieren zu wollen. Beim VGT jedenfalls stellen Studierende unter den AktivistInnen die Minderheit.
Geblieben sind schon einige Errungenschaften von damals, wie die deutlich bessere Stellung der Frauen, das Verbot von Atomkraft, die Legalisierung der Abtreibung, wesentlich mehr Freiheit in der Sexualität abseits der monogamen heterosexuellen lebenslangen Dauerbeziehung und eine Akzeptanz von Homosexualität zusammen mit einem Aufweichen der Geschlechterrollen. Ja, und die Rolle von Österreich im Nationalsozialismus ist wesentlich besser aufgearbeitet worden. Aber sonst? Verständnis von Demokratie und Zivilem Ungehorsam scheinen mir zurückgegangen zu sein. Ebenso das politische Engagement außerhalb des Parlaments. Wo sind die hunderten ja tausenden von AktivistInnen, die bereit sind, sich für etwas einzusetzen? Stattdessen wird der Ruf nach „Gesetz und Ordnung“, nach einer starken Hand, nach mehr totalitärem Staat, ja sogar nach Überwachung immer lauter. Die bürgerlichen Freiheiten werden jedenfalls eher eingeschränkt als gefestigt.
Was ist dafür der Grund? Ist es der Kapitalismus, der mit seinem ständigen Zwang nach Wirtschaftswachstum an seine Grenzen stößt und die Menschen verarmen lässt? Die Schere zwischen Arm und Reich wird jedenfalls laufend größer. Ist die Zeit der gemeinsamen Armut nach dem Krieg schon so lange her, dass wir uns entsolidarisieren? Scheint es den Menschen nur so, oder muss man sich wirklich mehr um den Arbeitsplatz fürchten? Ersetzen das Internet und die sozialen Medien den persönlichen Kontakt und das politische Engagement vor Ort?
In meiner Studienzeit war ich an zwei großen Unistreiks beteiligt. Ich hätte eigentlich gedacht, dass das ein wesentlicher Teil des Studiums ist, sozusagen die politische Bildung in der Praxis. Wie lange ist der letzte Unistreik her? Niemals hätten wir damals, so mein Eindruck, Studiengebühren hingenommen. Niemals hätten wir zugelassen, dass jemand, wie ich heute, aus politischen Gründen an der Uni ein Redeverbot erhält. Die Zeiten haben sich geändert.
Innerlich bin ich noch in den 1970er Jahren verhaftet. Ich vermisse die Unbekümmertheit statt der Angst im politischen Engagement, die Freiheit statt der Überwachung, die Autonomie statt verschärftem Strafgesetz, die antiautoritäre Mentalität statt der Staatshörigkeit. Oder bin ich nur ein Träumer von der guten alten Zeit?
Der letzte Unistreik, so weit ich weiß, war zu der Zeit, als ich noch studierte, muss irgendetwas Anfang der 90er Jahre gewesen sein. Damals ging es um die verpflichtenden Scheine pro Semester. Vierzehn Wochenstunden Zwangsprüfungen. Es war aber eine recht halbherzige Sache. Aber das war erst der Anfang. Noch greifbar. Denn PISA und Co. setzen auf die völlige Verschulung der Universitäten. Dabei träumte ich immer von der Freiheit der Lehre. Ich hatte Professoren, die das lebten, aber entweder waren ihre Fächer so “unbedeutend”, dass es niemanden interessierte (Pädagogik auf der WU) oder sie waren so alt, dass ihnen niemand mehr ankonnte. Doch nur die Freiheit bringt neue Gedanken hervor, Freiheit und Muße, die eigenen Gedanken kennenzulernen und sie im Diskurs zu erproben. Verfechter des Leistungsprinzips setzen dagegen: Aber da wird ja nicht gearbeitet. Nein, aber vielleicht das Leben in eine neue Richtung gelenkt. So passt nichts mehr, aber wenn man nicht den Kopf heben darf, dann hat man auch keinen Ausblick. Produktions- und Arbeitsbedingungen haben sich grundlegend geändert – aber wir müssen auf Schiene bleiben. Doch die alten Lösungen passen schon lange nicht mehr für die neuen Probleme. Die Welt wäre so bunt, lebendig, fröhlich wenn man Neues zuließe, wenn es gelänge die Neugierde nicht niederzubügeln, sondern zu erhalten. Dem Leben zugewandt – das Leben achtend, in all seinen Facetten ohne sich selbst bedroht zu fühlen.