„Wer in der Jugend nicht links ist, hat kein Herz, und wer im Alter nicht konservativ ist, hat kein Hirn“. Dieses Sprüchlein spielt auf die Rolle der jungen Generation bei sozialen Tieren an, die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen, und die der alten Generation, das Erreichte zu erhalten. Die Jungen einerseits voll Idealismus und Naivität, allerdings ohne Verantwortung, die Alten schon desillusioniert, aber pragmatisch, und vielleicht mit dem Bedürfnis, sagen zu können, dass alles, was sie aufgebaut haben, nicht nur schlecht war. Nach 30 Jahren Erfahrung in der Tierschutzbewegung spüre ich da schon mehr als ein Körnchen Wahrheit darin. Grund genug für mich, ständig zu hinterfragen, ob ich mich nicht unbewusst auf Lorbeeren ausruhen will, die gar keine sind.
Die Balance zwischen Anpassung und Widerstand zu finden ist nicht nur die zentrale Frage einer jeden revolutionären Bewegung, sondern auch die Kunst jeder erfolgreichen Kampagnenarbeit. „Anpassung und Widerstand“ nannte Manès Sperber seinen Vortrag anlässlich der Gedenkfeier für die Geschwister Scholl an der Uni München im Februar 1980. Wilhelm von Sternburg übernahm diesen Titel für seine Anthologie Sperbers. „Anpassung oder Widerstand“ wiederum heißt Alice Meyers Buch über die Schweiz in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Wie weit muss man sich an die gegebenen Verhältnisse anpassen, um mit seinem Widerstand erfolgreich zu sein?
Anpassung und Widerstand – im Tierschutz durch die Diskussion über Reformismus und Abolitionismus widergespiegelt – ist keine Frage des ethischen Ideals. Meine Ideale wurden jedenfalls in den 30 Jahren meiner Tierschutzaktivität nicht verwässert. Aber Widerstand gegen alles rückt einen aus der Gesellschaft hinaus. Die Kritik wird dann als eine, die von außen kommt, gesehen, als eine Totalkritik, als eine Gegnerschaft zur gesamten Gemeinschaft. Kritik ist aber nur erfolgreich und führt zu Veränderungen, wenn diejenigen, die sich ändern müssen, und die die Änderung des Systems in der Hand haben, sich darin wiederfinden können. Die Menschen müssen dort abgeholt werden, wo sie gerade sind. Und sie müssen die Gewissheit haben, dass die Änderung keine Verschlechterung bringt, dass klar ist, auf was sie sich da einlassen. Insofern kommen friedliche Änderungen in einer Demokratie relativ langsam und stetig, keinesfalls völlig abrupt.
In meinem Buch „Widerstand in der Demokratie“ nenne ich es den Tipping Point, an dem die Sympathie für eine Reform in totale Ablehnung umschlägt. Ist man zu angepasst, also zu wenig radikal in den Forderungen und dem Auftreten, ändert sich gar nichts. Alles bleibt beim Alten. Mit zunehmendem Widerstand, mit zunehmend scharfer Kritik und radikalem Aktivismus, steigt die Effektivität bis zu diesem Punkt. Ist man über den Tipping Point, also jenen Punkt maximaler Effektivität aufgrund maximal möglicher Radikalität unter den gegebenen Umständen, hinaus noch radikaler, dann schlägt die Stimmung mit einem Mal um und die Effektivität geht gegen Null. Man wird von der Gesellschaft als feindlich wahrgenommen, nicht mehr als einer von ihnen, sondern extremistisch und gefährlich.
Dieser Tipping Point ist nicht von Stein gemeißelt. Er ändert ständig seine Position. Wo er sich gerade befindet hängt vom Thema ab, um das es geht, und von der Grundstimmung in der Bevölkerung, aber auch von den Alternativen, die geboten werden, und von deren Umsetzbarkeit und Image. Der politische Gegner versucht die AktivistInnen laufend zu kriminalisieren und als extremistische Gefahr darzustellen. Je besser ihm das gelingt, desto mehr wandert der Tipping Point in Richtung Mainstream, umso angepasster muss sich die Bewegung verhalten, um noch effektiv zu bleiben. Umso mehr es aber den AktivistInnen gelingt, Stimmung gegen den Missstand zu machen, umso konfrontativer können sie auftreten, umso radikaler dürfen ihre Aktionen sein, ohne nach hinten loszugehen. Deshalb ist auch die Offenheit einer Bewegung so wichtig, weil nur dadurch ist für ihre ProtagonistInnen ein realistisches Bild ihrer Außenwirkung möglich, das für eine Abschätzung der Balance von Anpassung und Widerstand so wesentlich ist.
Jede Ideologisierung des Spannungsfelds zwischen Anpassung und Widerstand ist kontraproduktiv. In der Politik geht es darum, eine Wirkung zu erzielen und die Gesellschaft in Richtung des ethischen Ideals zu verändern. Eine soziale Bewegung riskiert ihre Effektivität, wenn sie diese Frage nicht pragmatisch angeht. Deshalb sind junge Bewegungen, die noch gar nicht davon zu träumen wagen, einmal wirklich etwas zu bewirken, so rückhaltlos radikal. Kaum aber werden Wirkungen spürbar, ist Pragmatik angesagt. Und das ist kein Alterskonservativismus, sondern einfach die Stimme der Vernunft. Jene sozialen Bewegungen, die diese Frage am Besten lösen, werden am erfolgreichsten sein.