21. Dezember 2024

„Gemüseheilige“ – Eine Geschichte des veganen Lebens in Deutschland

Da gibt es schon wieder eine neue Fleischalternative, dort endlich auch vegane Daunen, hier sogar besonders tolles veganes Leder. Wenn man so im Veggieboom lebt, möchte man meinen, die vegane Welt wird gerade erfunden. Insbesondere junge Menschen, die sich der Bewegung anschließen und ihre ersten veganen Flugblätter verteilen, denken sich meiner Erfahrung nach oft, dass diese Bewegung mit ihren Innovationen funkelnagelneu ist – und deshalb bald eine neue Zeit anbricht. Ist aber nicht so. Vegane Fleisch-, Daunen, Leder-, Butter-, Milch- und sonstige -alternativen gibt es schon seit ewiger Zeit. Da ist gar nichts neu. Vielmehr wirkt das eher nach Hamsterrad: alle 100 Jahre flammt der vegane Gedanke neu auf, entwickelt sich, als hätte es ihn nie gegeben, und stirbt dann wieder, um wie Phönix aus der Asche später neu zu entstehen.


Das jedenfalls ist dem Buch „Gemüseheilige“ von Florentine Fritzen im Franz Steiner Verlag zu entnehmen. Die Fakten sind bemerkenswert, allerdings hier gleich eine Warnung: das Buch ist VegetarierInnen und VeganerInnen gegenüber sehr abwertend geschrieben, ständig macht sich die Autorin über diese Bewegung lustig. Sensible Menschen werden das Buch nicht mögen. Also ein zweischneidiges Schwert.

Die Autorin hat vor allem vegetarische Zeitschriften aus den letzten 150 Jahren aus den Archiven ausgegraben und bewertet, dazu auch noch Tageszeitungen in Bezug auf Berichte zum Vegetarismus. Herausgekommen ist eine lange Liste beeindruckender Fakten:

Charles Carey schrieb bereits 1830 in den USA zu den ökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Tierproduktion! In Zukunft werde Tierliches zunehmend durch Pflanzliches ersetzt werden müssen, das sei das Hauptkennzeichen einer fortschreitenden Kultur. 1830! Kein Tippfehler! In Deutschland meldete sich der 1848er Revolutionär Gustav Struve in Baden mit dem Buch „Pflanzenkost“ zu Wort.

Der deutsche Gründungsvater des Vegetarismus ist – seit 1860 – Eduard Baltzer. Er lebte eigentlich vegan. In den 1880er Jahren hielt August Aderholdt in Frankfurt einige Vorträge über die Notwendigkeit, auf pflanzliche Ernährung umzusteigen. Seit dem Jahr 1902 führt das Lexikon „Brockhaus“ eine Definition des „strengen Vegetariers“, die dem heutigen Begriff „vegan“ entspricht. Das Wort „vegan“ wurde ja von Donald Watson 1944 erfunden. In Deutschland verwendete es man erstmals in den 1950er Jahren, man sagte „ein Vegan“ für „Veganer“.

1867 trat der erste vegetarische Verein in Deutschland auf den Plan. In Leipzig wurde 1892 von diesem und anderen Vereinen der Deutsche Vegetarier Bund gegründet, der 1903 insgesamt 1445 Mitglieder hatte. In Berlin gab es 1895 bereits 18 vegetarische Restaurants. Aus den Inhalten verschiedener Artikel dieser Zeit schließt die Autorin, dass die VegetarierInnen damals deutlich politischer eingestellt gewesen seien, als heute.

Die Vegetarische Warte, die Vereinszeitung des Vegetarierbundes, spricht im Jahr 1884 von „Vegetariern der laxeren Observanz“, wenn sie Milch, Butter und Eier konsumieren. Im Jahr 1930 gab es in der Zeitschrift Werbung für „Pflanzenfleisch“, Pflanzenbutter und pflanzliche Wurst und es war die Rede davon, dass 80 % des Tierfutters als Gülle auf den Misthaufen wandern. Alles zu einer Zeit vor den ersten Tierfabriken, in der Tierprodukte auch tatsächlich noch wesentlich teurer waren, als Pflanzliche. In Deutschland wurden im Jahr 1800 pro Person und Jahr 20 kg Fleisch gegessen, im Jahr 1900 dann 45 kg und im Jahr 1990 bereits 66 kg. Trotz vegetarischer Kampagnenarbeit.

Das erste Reformhaus in Deutschland eröffnete 1887 in Berlin. 1885 findet sich aber bereits Kritik an Wolle in der vegetarischen Warte, 1896 wird eine neue vegane Pflanzendaune der Öffentlichkeit präsentiert. 1880 gab es Kunstleder aus gepresster Baumwollwatte und Leinöl, 1912 Pflanzenseife aus Pflanzenfett und 1927 das erste „V“-Label (genannt VDR) für vegetarische Produkte. 1910 werden für ganz Deutschland etwa 100 Reformhäuser und 200 vegetarische Restaurants angeführt. Schon 1900 schrieb man, dass sich im Jahr 2000 die Gesellschaft sicher vegetarisch ernähren werde, und dass es keinen Krieg, keine Krankheiten, keine Knechtschaft und keine Viehzucht mehr geben werde. 1905 gab es einige Vegetariersiedlungen, darunter im Tessin, und die Eden-Siedlung in Oranienburg.

Die Veganerin und Feministin Ida Hoffmann verfasste 1905 eine Kampfschrift mit dem Titel „Vegetabilismus! Vegetarismus!“ und arbeitete zeitgleich am ersten veganen Kochbuch.  Gustav Simon führte 1905 Kochschulen für die vegane Ernährung ein.

Die erste vegane Pflanzenbutter dürfte 1869 das Licht der Welt erblickt haben. Friedrich Landmann erfand 1908 die erste feste vegane Pflanzenmargarine. Das Hauptargument in den vegetarischen Zeitschriften damals dafür war der Preis: vegan ist billiger, die Pflanzenmargarine sogar um 50 % im Vergleich zur Tierbutter. Seit 1901 gab es eine Margarine aus Kokosfett.

Dann kam der 1. Weltkrieg und damit die weitgehende Veganisierung der Bevölkerung aufgrund wirtschaftlicher Anforderungen. Die VeganaktivistInnen frohlockten, sie sahen jetzt die große Chance gekommen, die Menschheit umzustellen. Doch der Mangel ließ unter den Menschen das Fleisch als besonders erstrebenswert erscheinen, auch wenn laut Autorin das Bürgertum bei Kriegsende großteils vegan gelebt hat.

In der Zwischenkriegszeit sei nun das Interesse am Vegetarismus abgeflaut, die Mitgliederzahlen in den Vereinen gesunken. Vegetarismus war keine Utopie mehr. Seitens der AktivistInnen habe man so reagiert, die Tierethik statt Preis und Gesundheit in den Vordergrund zu stellen. Nur so, argumentiert die Autorin etwas polemisch, hätten sich die VeganerInnen weiterhin als Elite fühlen können. 1927 schrieb die vegetarische Warte, dass die Schonung der Tierwelt die eigentliche Idee des Vegetarismus sei. Der Vegetarierbund hatte nur mehr weniger als 100 Mitglieder und stellte bald seine Zeitschrift ein. Die wenigen Stimmen der AktivistInnen seien dafür umso lauter und radikaler geworden, man habe von einem Kampfbund geschrieben und das zu wenig konsequente Auftreten als Grund gefunden, warum die Bewegung nicht erfolgreicher sei. Magnus Schwantje spricht in dieser Zeit für den Bund für radikale Ethik gegen die Tierausbeutung. Bruno Wolff identifiziert Tierschutzvereine, die für ein humanes Töten eintreten, als ärgste Feinde des Tierschutzes.

Im Dritten Reich sei nun die vegetarische Bewegung vollständig kollabiert. Hitler selbst könne man laut Autorin nicht als Vegetarier bezeichnen, weil er jedenfalls Hummer, Krebse und Langusten gegessen habe. Aber unabhängig davon wurde „Vegetarismus“ zu einem im Dritten Reich verbotenen Wort, weil es eine zu widerständige politische Bedeutung habe, es sei potentiell marxistisch und bolschewistisch. Ein V-Mann der Gestapo infiltrierte die vegetarischen Vereine und sie wurden alle geschlossen. In der Nazi-Propaganda findet sich ein Lehrbuch zur Ernährung, laut dem Rohkost und Vegetarismus als Modeströmungen scharf abzulehnen sind. In der Folge schlossen alle vegetarischen Gasthäuser Deutschlands. Es gab lediglich die deutsche Gesellschaft für Lebensreform als gleichgeschaltete Organisation, allerdings ohne Vegetarismus. Die Anzahl der Reformhäuser wurde von über 2000 auf unter 100 reduziert. Es gab auch keine Fleischalternativen mehr.

Nach dem 2. Weltkrieg galt Fleisch bald als Zeichen von Wohlstand. Seit 1957 gibt es in Westdeutschland wieder pflanzliche Wurst und Brotaufstrich, als erstes von Tartex. Aber erst ab den 1960er Jahren wird mit Vegetarismus wieder Tierschutz verbunden, gibt es erste Kritik an Tierfabriken. Carl Anders Skriver wird dabei eine tonangebende Gestalt. Er war 1920 Vegetarier und 1948 Veganer geworden, bekannte sich aber zum Urchristentum und gründete einen Nazoräer-Orden mit 100en Regeln. Skriver schreibt das Buch „Der Verrat der Kirchen an den Tieren“ und bezeichnet darin auch Honig als ein Ausbeutungsprodukt. Er und seine Frau Käthe Schüder verwenden in Deutschland als erste das Wort „vegan“. Schüder schreibt sogar 1962 ein veganes Kochbuch „Vegan-Ernährung“. Im Vergleich zu diesen frühen PionierInnen, so die Autorin des Buches, hätte man bei den heutigen VeganerInnen eher das Gefühl, Tiere seien ihnen egal. Ab den 1970er Jahren wird das Wort „vegan“ zunehmend bekannt, allerdings sagt man „Vegans“ statt „Veganer“, angelehnt an das Englische. Erst 1990 verwendet die Frankfurter Allgemeine Zeitung erstmals den Begriff „vegan“, und zwar in den Jahren 1990-2000 in insgesamt 55 Artikeln, während er 2014-2016 sogar in 515 Artikeln vorkam. 1974 erwähnt diese Zeitung erstmals das Vitamin B12 als ein Problem bei strengem Vegetarismus.

Aus den Vegetarierzeitungen von 1975, insbesondere einer Artikelserie von Karl Albrecht Höppl, schließt die Autorin, dass ab dann der Veganismus in der Vegetarierbewegung akzeptiert war. Schon damals wurden der KZ-Vergleich gebracht und Tierfabriken kritisiert. In der DDR gab es gleichzeitig keine vegetarische Bewegung. Weder gab es Pflanzenmilch noch vegane Fleischalternativen.

Zum heutigen Veganismus meint die Autorin, es handle sich in erster Linie um eine Modeströmung. Straight Edge Musik, die es seit den 1980er Jahren gibt, sei 1988 zum Vegetarismus und dann in den 1990ern zum Veganismus umgeschwänkt und hätte die Jugend dafür interessiert. Doch der Veganismus sei heute softer, der radikale Tierschutz der aktionistischen Gruppen der 1970er Jahre sei heute anachronistisch und uninteressant. Illegaler Aktivismus gehe stark zurück, die Öffentlichkeit nehme keine Notiz. Der heutige Veganismus zeichne sich durch ein unpolitisches Lebensgefühl, und vielleicht durch Bezug zu Klima, Regenwald und 3. Welt aus, aber Tiere seien egal. Seit 2010 gebe es zwar einen Vegan-Hype, aber der betreffe nur die gebildete, urbane Oberschicht und basiere auf Gesundheit, Genuss und dem Essen als Ersatzreligion.

Die Grüne Jutta Ditfurth habe mit ihrem Buch „Entspannt in die Barbarei“, das von Ökofaschismus und rechten VeganerInnen handelt, zur Schwächung der Bewegung beigetragen. Ditfurth erkennt im Vergleich von Speziesismus mit Rassismus und Sexismus eine latente Menschenverachtung und eine grundsätzlich antihumane Einstellung.

Spöttisch stellt die Autorin fest, dass die Vegan-AktivistInnen in Deutschland seit 150 Jahren sagen: „Wir stehen an einer Schwelle zu einer neuen Zeit“. Gekommen ist sie aber nie.

2 Gedanken zu “„Gemüseheilige“ – Eine Geschichte des veganen Lebens in Deutschland

  1. Sehr spannend! Zugleich auch sehr interessant wie die Autorin ihre offensichtliche Abneigung (Hass?) scheinbar nicht wirklich von den Inhalten getrennt hat und somit quasi ihre Weltanschauung über andere Menschen drübergestülpt hat.

    Aber wie dem auch sein, zu den Inhalten. Ich finde es gibt heute einen wesentlichen Punkt der anders ist:
    Der Mehrheit der Menschen ist Veganismus kein so großes Anliegen, ABER der Mehrheit der Menschen sind Tiere ein Anliegen. Derzeit sind die Menschen nicht im Stande diese Einstellung auch zu Leben, auf Grund von Gewohnheit im Verzehr von Tierkörpern und Tierprodukten etc.
    Mit In-Vitro-Fleisch denke ich wird es aber bald eine alternativlose Alternative geben, auf die die Mehrheit der Menschen umschwingen wird, wenn der ökologische, ökonomische und letztlich auch soziale Druck auch von anderen Fleischessern sehr groß werden wird – natürlich auch im Zuge eines Generationenwandels.
    Damit ist Speziezismus und Carnismus nicht weg. ABER: Milliarden von Menschen werden erstmals im Stande sein, nicht mehr Täter zu sein, sondern den Carnismus und Speziezismus objektiv zu analysieren, da sie selber nicht mehr direkt Tiere essen. Das wird ein großes Umdenken sehr sehr stark erleichtern, da sich niemand mehr persönlich angegriffen fühlt.

    Der zweite große Punkt ist der Klimawandel. Ich denke es ist durchaus nicht undenkbar dass wir Menschen uns selbst vom Antlitz dieser Erde fegen. Dazu habe ich eine neutrale Haltung, ich fände es aber doch sinnvoller das zu vermeiden. Das zu vermeiden bedarf allerdings einer gigantischen Reduktion der Tierausbeutungsindustrie, was im Sinne des Überlebensdrangs ganzer Staaten etc. den obig genannten Druck erzeugen wird, auf in-vitro Fleisch umzusteigen.

    Letztlich gilt es zu sagen, dass es auf individueller Ebene immer Menschen geben wird, denen Altruismus ein größeres Anliegen ist, und solche denen Egoismus ein größeres Anliegen ist. Letztlich denke ich dass für viele altruistische Menschen erkannt haben, dass der Altruismus für alle, und auch für sie selbst, das beste ist. Somit wird es immer Wurzeln der Empathie in jeder Gesellschaft geben. Diese Wurzeln sind überall und lassen sich glücklicherweise niemals ernsthaft ausheben. Spätestens im Anblick des Todes erkennen die Menschen, dass das was sie für das missachtenswerte Fremde glaubten, in Wahrheit eins ist mit ihrer selbst.

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