17. November 2024

Anthropozentrismus revisited – „Lone Survivors“ von Chris Stringer

Rhodesiensis
Eine andere Menschenart, bis vor 20.000 Jahren in Afrika noch am Leben

Für meine Dissertation 2005 in Philosophie habe ich mich auch eingehend mit dem Neandertaler beschäftigt. Dennoch ließ mir das Buch „Lone Survivors“ von Chris Stringer im Times Books Verlag aus dem Jahr 2012 die Augen übergehen, wie es mir vorführte, was sich seither alles zu diesem Thema Neues entwickelt hat! Man geht mittlerweile davon aus, dass in den letzten 2 Millionen Jahren etwa 10 verschiedene Menschenarten zumeist gleichzeitig auf der Erde existiert haben – natürlich mit allen kontinuierlichen Übergängen dazwischen. Welche davon sollen jetzt im Ebenbild des christlichen Bibelgottes geschaffen sein? Welche davon bilden gemeinsam das „menschliche Bewusstsein“, das laut Sozialwissenschaften die Wirklichkeit konstruiert, und welche davon sind nach unserem Gesetz Personen und welche Sachen?

Vor mehr als 2 Millionen Jahren entwickelten sich Wesen in Afrika, die erstmals der Gattung Homo, oder Mensch, zugeordnet werden. Schon bald danach wandern sie nach Eurasien aus. In Georgien im Kaukasus sind sie seit vor 1,75 Mill. Jahren nachweisbar. Auf die Insel Flores in Südostasien verschlug es sie spätestens vor 800.000 Jahren, vielleicht sogar deutlich früher, allerdings sicherlich nicht mit Booten. Die Flores-Menschen hatten ein Gehirn der Größe von Schimpansen, einfache Steinwerkzeuge und nutzten Feuer, wenn sie es auch höchstwahrscheinlich nicht selber entfachen konnten. Sie starben erst vor 17.000 Jahren aus. 5.000 Jahre später besiedelte der moderne Mensch die Insel.

Heidelbergensis
Der Vorfahr von Denisova-Mensch und Neandertaler – beide lebten noch vor 30.000 Jahren neben unseren VorfahrInnen in Eurasien

Vor 1,5 Mill. Jahren gab es weitere Einwanderungswellen von Afrika nach Eurasien, bis dann vor 650.000 Jahren jene Art der Gattung Homo einwanderte, die in Ostasien zum Denisova-Menschen wurde. Später entwickelten sich Auswanderungswellen derselben Art im westlichen Eurasien zum Neandertaler. In Afrika dürften währenddessen gleichzeitig eine ganze Reihe von Menschenarten gelebt haben. Von Denisova-Mensch und Neandertaler gibt es vollständige Genomsequenzen, d.h. man könnte sie jederzeit per Klonen zum Leben erwecken. So tragisch das für die betreffenden Individuen wäre, so sehr würde es vielleicht den hartnäckigen Anthropozentrismus ins Wanken bringen. Der letzte gemeinsame Vorfahre der heutigen Menschen und des Denisova-Menschen lebte vor ca. 600.000 Jahren, der vom heutigen Menschen und vom Neandertaler vor ca. 350.000 Jahren.

Homo sapiens

Unsere Art Homo sapiens entstand vor 140.000 Jahren in Ostafrika inmitten verschiedener archaischer Menschenarten. Laut DNA-Analyse haben sich viele Jahrzehntausende hindurch jeweils nur etwa 5000 Frauen dieser Art fortgepflanzt, und zwar jeweils ein Mann mit mehreren Frauen, es gab also keine monogame Beziehung. Etwa vor 55.000 Jahren wanderten unsere VorfahrInnen aus Afrika aus, in erster Linie Männer. In einer einige Jahrtausende später folgenden Auswanderungswelle kamen weitere Männer nach, die die ersteren vollständig ersetzten und von deren Frauen übernommen wurden. Nach Europa kamen sie mit schwarzer Hautfarbe, um die weißhäutigen und rothaarigen Neandertaler zu verdrängen. Erst vor 12.000 Jahren entwickelten sie eigenständig auf einem anderen Gen eine weiße Hautfarbe und vor 20.000 Jahren erstmals blaue Augen.

Flores
Der Flores-Mensch, unser letzter gemeinsamer Vorfahre dürfte vor mehr als 2 Millionen Jahren gelebt haben, starb erst vor 17.000 Jahren aus!

Und die Menschenarten haben sich fröhlich untereinander gepaart. EuropäerInnen haben 2% Neandertaler-Gene, MelanesierInnen 8% Denisova-Gene und AfrikanerInnen 2% archaische Gene von Menschenarten, die seit mehr als 700.000 Jahren vom Homo sapiens getrennt waren. Der letzte gemeinsame Vorfahre aller heute lebenden Menschen ist gut 140.000 Jahre alt, die Genvariation unter heute lebenden Menschen ist also beträchtlich.

Alle Menschen waren offenbar seit Beginn des Genus Homo unbehaart, d.h. es gab eine Trennung zwischen Kopf- und Schamhaarlaus. Die Hirngröße hat sich in den letzten 600.000 Jahren eher verkleinert, selbst beim Homo sapiens ist sie heute 10% kleiner und das Kleinhirn ist im Verhältnis zur Hirnrinde größer, als noch vor 20.000 Jahren. Vor 40.000 Jahren lebten neben dem Homo sapiens der Neandertaler, der Denisova, der Flores-Mensch und – bis vor 20.000 Jahren – noch archaische Menschenarten in Afrika. Schade, dass wir die einzigen Überlebenden sind!

Der Neandertaler

Neandertaler
Der Neandertaler hatte ein größeres Hirn als die heutigen Menschen, kannte aber weder Kunst noch Distanzwaffen, wie Speer oder Pfeil.

Beim Neandertaler waren Frauen und Männer gleich groß und gleich stark. Ein Hinweis auf eine monogame Lebensweise? Männer und Frauen zeigen auch gleich oft verheilte Verletzungen, wie sie durch Großwildjagden entstehen. Ein Hinweis darauf, dass es keine getrennten Genderrollen gab? Der Neandertaler hatte rote Haare und eine weiße Haut. Die Frauen wechselten zur Partnersuche die Gruppe. Die Bevölkerungsdichte war sehr gering, mit 3500 sich fortpflanzenden Frauen weltweit, praktisch niemand wurde älter als 35 Jahre. Der Neandertaler dürfte sich hauptsächlich von Fleisch ernährt haben, sein Protein stammte mehrheitlich von Rentier, Mammut, Bison und Pferd. Aber es gibt auch viele Belege von Kannibalismus. Beim Homo sapiens dagegen sind Frauen 20% schwächer als Männer, was vielleicht auf getrennte Geschlechterrollen und eine andere Nachwuchsstrategie hindeutet. Homo sapiens hat Kinder, die länger brauchen, bis sie erwachsen werden (4, 11 bzw. 16 jähriger Homo sapiens entspricht 3, 8 bzw. 11 jährigem Neandertaler), und trotzdem kann er in kürzerem Abstand Nachwuchs bekommen. Homo sapiens hatte auch mehr pflanzliche Nahrungsanteile, mit eigenen Werkzeugen für deren Verarbeitung und Pflanzenstärke als Kindernahrung statt Muttermilch, was ein früheres Absetzen und eine raschere erneute Schwangerschaft ermöglichte. In Homo sapiens Gruppen gab es 4 x so viele ältere Individuen als beim Neandertaler.

Der Neandertaler kannte keine Kunst außer Körperbemalung und Halsketten mit Muscheln. Die Steinwerkzeuge blieben im Wesentlichen einfach, es gab keine Wurfwaffen, die auf Distanz tödlich wirken konnten. Die wenigen belegten Grabstätten vom Neandertaler lassen sich dadurch erklären, dass man die Toten aus dem Lebensraum schaffen wollte. Eine Verbindung mit Religion oder einem Glauben an ein Leben nach dem Tod lässt sich nicht herstellen. Sein Kehlkopf ermöglichte die Sprechfähigkeit vergleichbar mit heutigen 2-jährigen Menschenkindern. Der Neandertaler aß sein Fleisch roh, kochte aber z.B. Muscheln und buk Brot. Gegen die Kälte behängte er sich zwar mit Fellen, war aber nicht in der Lage daraus Kleidung oder Schuhe zu nähen oder zu weben. Es sind aber mehrere Neandertaler nachgewiesen, die mit schwerer körperlicher Behinderung das Erwachsenenalter erreichten, also von ihrer Gruppe essenzielle Hilfe erhielten. Der Neandertaler dürfte nie ein Boot gebaut und Fische gefangen haben. Im Gegensatz zum Homo sapiens zur selben Zeit lebte der Neandertaler nicht mit Hunden zusammen. Vor ca. 30.000 Jahren starb der Neandertaler aus, nachdem er zuvor an die Südspitze Spaniens verdrängt worden war.

5 Gedanken zu “Anthropozentrismus revisited – „Lone Survivors“ von Chris Stringer

  1. @Name:

    Das Foto zeigt eine Rekonstruktion durch KriminalistInnen lediglich aufgrund der Knochenfunde, zu einer Zeit, als das Genom noch nicht entschlüsselt war.

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