17. November 2024

Das neue Tierversuchsgesetz muss eine ethische Evaluierung der Tierversuche enthalten!

Die erst im 19. Jahrhundert aufkommende Praxis der Tierversuche in der Wissenschaft wurde in Österreich bereits 1885 durch den sogenannten Vivisektionserlass geregelt, der im Wesentlichen alle Versuche zuließ, die von anerkannten wissenschaftlichen Institutionen „zur Linderung menschlichen Leidens“ oder „zu ernsten Forschungs- und Unterrichtszwecken“ durchgeführt wurden. Nachdem durch die Verfassung der zweiten Republik der Tierschutz in die Kompetenz der Länder fiel, diese aber Tierversuche nicht regelten, kam es nach 3 gesetzesfreien Jahrzehnten 1974 zum ersten Tierversuchsgesetz in Österreich, das aber völlig wirkungslos blieb. Im März 1986 wurde die europäische Übereinkunft zum Schutz von Versuchstieren beschlossen, die jedoch Österreich weder unterzeichnete noch ratifizierte. Stattdessen führte man hierzulande 1989, also vor 23 Jahren, eine Reform des Tierversuchsgesetzes durch, die bis heute Gültigkeit hat. 23 Jahre sind allerdings eine sehr lange Zeit, wenn man den rasanten Wertewandel im Tierschutz berücksichtigt.

In einer Reihe von Erkenntnisse der letzten Jahre (VfSlg. 17.731/2005, VfSlg. 18.150/2007 und insbesondere G 74/11-10, V 63/11-10, 1. Dezember 2011) hat der Verfassungsgerichtshof festgestellt, dass in den letzten Jahrzehnten in Österreich ein großer Wertewandel im Tierschutz stattgefunden hat, der eine umfassende Änderung des bisherigen Umgangs mit Tieren mit sich bringt. Auf Basis dieser Einsicht muss daher natürlich auch ein 23 Jahre altes Gesetz zum Umgang mit Versuchstieren überdacht und an die aktuellen Tierschutzwertvorstellungen angepasst werden.

Im Herbst 2010 erließ der EU-Rat eine neue Richtlinie zu Tierversuchen, die bis November 2012 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Diese Richtlinie schränkt zwar den Spielraum für eine national abweichende Gesetzgebung ein, sieht aber sowohl die Beibehaltung bisher bestehender, strengerer Tierschutzbestimmungen, als auch in einer Reihe von Punkten die Möglichkeit einer strengeren Auslegung der Richtlinie vor. Österreich gehört in der EU zur Avantgarde im Tierschutz, insbesondere unsere Verbote von Pelzfarmen, von der Käfighaltung von Kaninchen zur Fleischproduktion, von Wildtierzirkussen und von der Käfighaltung von Legehennen sind in der EU und weltweit beispielgebend. Entsprechend erwartet die Bevölkerung auch in der Tierversuchsgesetzgebung eine Vorreiterrolle unseres Landes.

Artikel 38 (2) d) der EU-Richtlinie sieht eine Schaden-Nutzen Analyse für zu genehmigende Tierversuche vor, nämlich ob unter den gegebenen Aussichten auf einen etwaigen Nutzen die Schäden für die betroffenen Tiere „unter Berücksichtigung ethischer Erwägungen“ gerechtfertigt sind. Artikel 37 (1) zählt jene Punkte auf, die im Rahmen eines Antrags für einen Tierversuch „mindestens“ angegeben werden müssen. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie kann daher hier eine zwingende ethische Abwägung durch die AntragstellerInnen eingefügt werden. Begründen lässt sich diese Forderung juristisch durch §3 (2) 1 des österreichischen Tierversuchsgesetzes, das Tierversuche nur „bei berechtigtem Interesse“ erlaubt. Darunter ist eine ethische Abwägung zu verstehen. Laut §4 (3) des Tierversuchsgesetzes müssen die TierexperimentatorInnen selbst die Notwendigkeit und Angemessenheit des Tierversuchs gegen die Belastung der Versuchstiere abwägen. Da strengere nationalstaatliche Bestimmungen ja aufrecht erhalten werden dürfen, lässt sich so argumentieren, dass es juristisch zulässig wäre, eine ethische Abwägung für alle Tierversuche in Hinkunft grundsätzlich gesetzlich vorzuschreiben.

So lächerlich, wie das für manche Ohren klingen mag, ist diese Forderung tatsächlich nicht. Bisher war es gängige Praxis bei der Erteilung von Genehmigungen durch die Behörde nur zu überprüfen, ob der Versuch wissenschaftlichen Kriterien genügt und nicht direkt durch tierversuchsfreie Methoden ersetzbar ist. Der Hintergrund dieser Regelung ist die Freiheit der Wissenschaft, die in der Verfassung verankert ist. Solange dieser Freiheit in der Verfassung keine Staatszielbestimmung Tierschutz gegenübersteht, kann sie nicht durch Tierschutzbedenken – also eine ethische Abwägung, ob der mögliche wissenschaftliche Erkenntnisgewinn die Leiden der jeweiligen Versuchstiere „wert“ ist – eingeschränkt werden. Deshalb brauchen wir jetzt sofort Tierschutz als Staatsziel in der Verfassung, um die entsprechende Regelung im neuen Tierversuchsgesetz verankern zu können.

Ein Beispiel für die mögliche Auswirkung einer solchen Bestimmung. In meiner Zeit an der Uni Cambridge in England hat ein Mitarbeiter des Instituts für experimentelle Psychologie insgesamt etwa 400 Affen nach ihrer Farbsichtigkeit getestet, sie dann getötet und ihre herausgeschnittenen Augen mit verschiedenen Farben bestrahlt. Im Gespräch mit mir rechtfertigte sich dieser Forscher, dass es doch interessant sei, zu wissen, ob die Affen, wie wir Menschen, 3 oder nur 2 Grundfarben sehen würden. Hier könnte eine ethische Abwägung ansetzen. Wie würde man dafür argumentieren, dass diese Versuche ethisch gerechtfertigt sind? Kaum ein Mensch dürfte ernsthaft 400 Affen einem derart unnötigen Versuchsziel zu opfern bereit sein.

Ein anderes Beispiel wären die sogenannten Lawinenversuche mit Schweinen, die im Jänner 2010 in Vent in Tirol stattgefunden haben. Damals hat man einige Dutzend Schweine betäubt und, mit zahlreichen Messgeräten versehen, im Schnee eingegraben. Damit sollten Lawinenunfälle bei Menschen simuliert werden. Gewaltfreie Blockadeaktionen von TierschützerInnen und eine riesige Protestwelle aus der Bevölkerung beendeten diese Versuche damals. Vorher waren sie aber genehmigt worden, obwohl die Verantwortlichen für die Versuche frank und frei erklärt hatten, dass es lediglich um die Frage gehe, ob man Reanimationen bei Lawinenopfer länger als bisher durchführen solle oder nicht. Dieses Versuchsziel ließe sich aber ethisch vertretbarer dadurch erreichen, dass man für eine gewisse Zeitspanne die Reanimation der Opfer bei Lawinenunfällen länger als bisher durchführt, und danach evaluiert, ob sich dadurch zusätzlich Personen retten ließen. Daher hätte eine ethische Abwägung dieser Versuche – wie ja auch die Reaktion der Öffentlichkeit gezeigt hat – zu einer Ablehnung des Genehmigungsantrags führen müssen. Mein Leserbrief seinerzeit dazu: https://martinballuch.com/?p=1108

4 Gedanken zu “Das neue Tierversuchsgesetz muss eine ethische Evaluierung der Tierversuche enthalten!

  1. Ich denke auch, dass der Großteil aller Versuche völlig Sinnfrei ist. Ein Körper einer anderen Spezies reagiert nun mal anders auf eine Substanz als der einer wiederum anderen Gattung. Dieses Problem besteht beispielsweise in der Tiermedizin, wenn es um so etwas “nebensächliches” wie Zeckenschutzmittel für Hunde und Katzen geht. Ein höchst erfolgreiches Präparat, das Hunde die Zecken vom Leib hält, wirkt bei Katzen tötlich (!)! Das hat aber in diesem Fall nichts mit der Dosierung zu tun (die bei kleinen Hunden und Katzen oftmals ident ist), sondern ist ein Speziesproblem! Wie also kann ein Tierversuch (wie von Jimmy beschrieben), jemals aussagekräftig für einen Menschen sein???
    Und selbst wenn es eine Aussage hätte, ist es unethisch! So toll die wissenschaftlichen Ergebnisse auch sein mögen (oder nicht). Man sollte an Alternativen forschen, diese fördern und stärker publizieren! Alles andere ist mittelalterlich und rückständig!

  2. Meiner Meinung nach sind 95% der Tierversuche ausschließlich dazu da, um
    a) schöne Papers (ohne praktischen Nutzen) für den wissenschaftlichen Werdegang zu produzieren und
    b) bei Medikamenten-Nebenwirkungen Material für die Schadenersatzprozesse zu haben.

    Im Moment wird darüber diskutiert, dass Männer und Frauen eigentlich unterschiedliche Medikamente benötigen, weil ein Medikament bei Männer und Frauen völlig anders wirken kann. Man spricht von maßgeschneiderten Medikamenten für Menschen. Was soll ich davon halten, wenn ein Medikament für mich als erwachsene Frau, dann an einem männlichen Jung-Meerschweinchen ausprobiert wurde?
    Wie viele Medikamente wurden zugelassen und kurz darüber vom Markt genommen, weil sie nachweislich Krebs verursacht haben? Ich habe ein Gefühl, warum das so ist.

    Bei einem kürzlich gelesenen Buch hätte ich mich fast übergeben und nicht nur fast geweint. Es handelt über die Plastizität des Gehirns. Einem Affen wurden Finger amputiert, um zu sehen, ob sich die “Landkarte” im Gehirn daran anpasst, dh die benachbarten Finger den Platz einnehmen. Aus meiner Sicht ein hochgradig perverser Versuch. Wäre ich am Klappentext gewarnt worden, hätte ich den Schrott nicht gelesen. Ein paar Seiten weiter beschreibt der gleiche Autor, dass man anhand der Musikerkrankheit dieselbe Plastizität erkennen kann: Gitarristen, die -ich glaube es waren Mittelfinger und Ringfinger- oft gleich benutzen, verlernen, diese beiden Finger getrennt voneinander zu bewegen. Die beiden Finger können nicht mehr getrennt voneinander angesprochen werden, offenbar kombiniert das Gehirn die beiden Areale. Dieser Versuch kommt tierversuchsfrei, schmerzfrei, der betroffene Mensch kann darüber Auskunft geben und der Effekt ist -mit Training- reversibel.

    Bitte kämpft weiter für die Versuchstiere und gegen diesen kranken Unsinn!

  3. Tierversuche in der Wissenschaft haben eine viel längere Geschichte. Sie werden in der antiken griechischen Medizin beschrieben (3.. v. Chr.), spätestens seit dem 12. Jahrhundert, also zur Hochzeit der arabischen Gelehrsamkeit, im Mittelmeerraum, und erleben in der frühen Neuzeit, v. a. im 16. Jahrhundert, in England, Italien und anderen europäischen Ländern einen enormen Aufschwung; Untersuchungen des Blutkreislaufs, des Verdauungssystems, Blutübertragungen oder die Wirkung des Luftentzugs auf die Lunge mit der Vakuumpumpe hat man intensiv an lebenden Tieren (und mintunter an meist unfreiwilligen menschlichen Probanden) erforscht.
    Das 19. Jahrhundert baut darauf lediglich auf. Man muss sich diese über zweitausend Jahre lange und grausige Vorgeschichte bewusst machen, um zu erfassen, welch großen Schritt auch nur die ersten Bestrebungen zu einem geregelten Schutz der Tiere – die aufs 19. Jh. zurückgehen – bedeuteten. So gesehen: es ist noch ein weiter Weg.

  4. Es ist wohl die einzige (und auch höchst notwendige) Möglichkeit, den Tierschutz in der Verfassung zu verankern. Nicht nur im Tierversuchsgesetz bleibt sonst die ethische Abwägung immer zu schwammig. Des weiteren ist meiner Meinung nach sehr fraglich, ob die Antragstellerinnen selbst zu einer ethischen Abwägung in der Lage sind, da dies eine gewisse Objektivität voraussetzen würde. Wenn ich aber AntragstellerIn bin und mein Ziel die Genehmigung des Tierversuchs ist, dann werde ich meine Argumente schon so hindrehen, dass sie “ethisch” klingen.
    Strengere Kontrolle, vor und nach dem Versuch und eine genauere Überprüfung der Anträge durch unabhängige Kommissionen sind einfach unumgänglich.

    Des weiteren ist es mir ein Rätsel warum die neue EU-Richtlinie für eine so lange Zeit beschlossen werden soll und warum nicht der rasche Wandel innerhalb der Wissenschaft mitberücksichtigt wird.

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