28. März 2024

Der Veggieboom: ein positiver Schritt für Tierschutz?

 

Es gibt ihn tatsächlich, den „Veggieboom“. Vegetarismus und Veganismus feiern eine nie geahnte Aufmerksamkeit. Ob sich das in einer signifikanten Erhöhung der Zahl von VegetarierInnen oder VeganerInnen niederschlagen wird, müssen Statistiken zeigen, die dafür ausreichend genau sind. In jedem Fall findet man momentan in vielen Buchhandlungen ganze Vegan-Vegetarisch Abteilungen, von Wien bis Innsbruck. Mit den Büchern von Foer und Duve wurde Vegetarismus salonfähig. Das öffentliche Interesse ist da, sogar der Falter titelte mit „Wien wird vegan“. Vegane Restaurants, vegane Supermärkte, vegane Pizzerien, vegane Produktlinien in Supermärkten, vegane Kleidergeschäfte und sogar vegane Kosmetiksalons wachsen wie Schwammerln aus dem Boden.

Mehr Vegetarismus oder sogar Veganismus bedeutet weniger Tierleid, bedeutet weniger Tierausbeutung, bedeutet also im Sinne des Tierschutzes einen Schritt in die richtige Richtung. Oder? Was so selbstverständlich klingt wird von manchen in Frage gestellt. So sprach Helmut Kaplan bei seiner Ringvorlesung an der Uni Innsbruck davon, dass es sich da um eine Lifestyle- und Modeerscheinung handle. Dabei sollte, so Kaplan, die Entscheidung für Vegetarismus eine moralische Entscheidung sein. Insofern fehle die politische Dimension des Veggiebooms, die es bei erfolgreichen Befreiungsbewegungen gegeben habe, und daher sei dieser Veggieboom im Sinne des Tierschutzes negativ zu beurteilen. Im Fellbeisser führt Kaplan diese Gedanken weiter aus: http://www.fellbeisser.net/news/tierrechte-oder-teilzeitvegetarier

Ich fürchte, diese Argumentation greift zu kurz. Menschen sind soziale, nicht rationale Tiere. Sie sind gerne bereit, einen neuen Lebensstil und eine neue Lebensphilosophie anzunehmen, wenn sie dabei nicht exponiert sind, wenn das viele machen, wenn es leicht geht und wenn die gesamte Umstellung tatsächlich realistisch ist. Nick Cooney hat diese Aspekte in seinem Buch, das auf zahlreichen wissenschaftlichen Studien basiert, herausgearbeitet. Seine Erklärungen findet man in seinem Buch „Change of Heart“, aber auch in verschiedenen Videoclips:

http://www.youtube.com/watch?v=54JoJWGCmX8

Insbesondere das von Cooney so bezeichnete „Fuß in der Tür“-Prinzip erklärt, warum seiner Ansicht nach schrittweise Reformen letztlich der richtige Weg für eine Revolution sind. Eine revolutionäre Lebensstiländerung überfordert den Menschen. Aber wenn er einmal einen Schritt in diese Richtung gegangen ist, dann fällt ihm der nächste Schritt umso leichter und er kann durchaus letztlich die gesamte Änderung mitvollziehen.

Umgelegt auf die vorliegende Situation bedeutet das: ein Veggietag pro Woche ist der erste Schritt Richtung Vegetarismus, der wiederum ein Schritt Richtung Veganismus und von dort wäre es dann auch nicht mehr weit zur Anerkennung von Tierrechten. Dass diese Schritte unbedingt von konsistenten Ideologien mitgetragen werden müssten, ist dabei gar nicht notwendig. Für Menschen als soziale Tiere sind rational durchdachte Ideologien viel weniger Handlungsanreiz, als soziale Normen.

So sehr sich die „weniger Fleischkonsum“-Ideologie vielleicht von Veganismus und der Anerkennung von Tierrechten abstrakt ideologisch unterscheidet, so sehr gibt es vom einen zum anderen ein sowohl psychologisches als auch gesellschaftspolitisches Kontinuum. Dieses Phänomen kennen wir auch in anderen Fragen. Demokratie und Diktatur unterscheiden sich ideologisch gesehen grundsätzlich, würde man sagen. Dennoch kann eine Demokratie völlig kontinuierlich in eine Diktatur übergehen, ohne dass man den konkreten Moment der Grenzüberschreitung tatsächlich angeben könnte. Personen einer politisch rechts-autoritären Provenienz versuchen dementsprechend unsere Demokratie schleichend zu untergraben, aus Gründen der öffentlichen „Sicherheit“ die Überwachung ständig zu erweitern und aus angeblicher „Terrorangst“ die Strafgesetze immer mehr zu verschärfen. Die Strategie ist offensichtlich erfolgreich.

Umgekehrt trägt jede Reduktion von Fleischkonsum zur schleichenden Erosion der Tierindustrie bei. Jede Verschärfung der Tierschutzgesetze erhöht den allgemeinen Respekt gegenüber Tieren. Und jeder Schritt weg von der Tierindustrie, hin zu mehr Respekt gegenüber Tieren, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

15 Gedanken zu “Der Veggieboom: ein positiver Schritt für Tierschutz?

  1. @Andreas:

    Ich vermute Ihre Einstellung korreliert mit der Annahme, dass Tiere nuneinmal im Vergleich zu Menschen minderwertig sind. Wäre das nicht so, würden Sie sofort verstehen, warum man aus rein rationalen Gründen den Veganismus verbreiten will, genauso, wie seinerzeit die Bewegung gegen Sklaverei und für Menschenrechte ihre Einstellung verbreiten wollte.

    Das ist die Crux. Wie Sie meinem auf naturwissenschaftlicher Basis argumentierenden Buch “Der Hund und sein Philosoph” entnehmen können, gibt es sehr gute Argumente gegen die These, dass Menschen höherwertige Wesen seien. Tatsächlich scheint mir, wenn ich alles abwäge, letztere These esoterisch.

    Es ist also nicht die Frage zu diskutieren, ob es nachvollziehbar ist, warum es vegane Kampagnen gibt, sondern ob es nachvollziehbar ist, die Höhrwertigkeit des Menschen in Frage zu stellen. Erst wenn Sie sich auf diese Diskussion einlassen, werden Sie die Vehemenz veganer Forderungen verstehen.

    Natürlich gibt es viele weitere gute Gründe für Veganismus, insbesondere Tierquälerei an sich, Umweltschutz und Klimawandel, aber die tierethische Diskussion ist zentral, um nachzuvollziehen, warum Menschen wie ich aus diesem Thema eine Lebensaufgabe machen.

  2. Ich frage mich immer nur, warum Veganer so missionarisch auftreten und alle bekehren wollen, ihrer Ernährungsweise nachzufolgen. Dies geschieht durch Bezug auf mögliche gesundheitliche Aspekte, moralische Einstellung, Verhältnis zu Tieren, Ausbeutung des Planeten, usw. Manche Veganer behaupten auch, eine vegane Lebensweise würde einen zum besseren Menschen machen. Für mich ist der Veganismus damit eine esoterische Heilsbewegung, Esoterik, nichts weiter. Wenn man sich die Anfänge und Mechanismen von Esoterik anschaut, sieht man sehr eindeutige Übereinstimmungen. Ich habe mich im Studium der Kulturwissenschaft jahrelang mit solchen Dingen beschäftigt. Aber vielleicht täusche ich mich da ja.

    1. Ich habe vor vielen Jahren vegetarisch gelebt. Damals war das noch ungewöhnlich. Fast alle Leute reagierten verwundert und viele dieser Leute entwickelten einen “missionarischen Eifer”, mich zum Fleisch essen zu bewegen. Das wäre dann auch Esoterik.
      Auch Menschen wurden gegessen. Im Prinzip besteht ja auch kein Unterschied, ob man das Fleisch von Tieren isst, oder von Menschen. Sogar bis in die Neuzeit aßen Schiffbrüchige Menschenfleisch. Das war ein offenes Geheimnis und wurde erst spät sanktioniert, wenn man es beweisen konnte. Auch dieses Verbot wäre dann “Esoterik”.

  3. Ich teile deine Meinung, Martin, dass die soziale Komponente bei der Annahme neuer Verhaltensweisen eine sehr wichtige Rolle spielt. So lebe ich selbst seit dem 1. Januar vegan, nachdem ich Anfang des Jahres 2012 zum ersten Mal mit dem Thema Tierrechte in Berührung gekommen bin (ich war zwar schon vorher 6 Jahre Vegetarierin, allerdings ohne mich jemals intensiv mit dem Thema Tierausbeutung auseinander gesetzt zu haben). Dass sich der Schritt hin zum Veganismus dann recht plötzlich innerhalb relativ kurzer Zeit vollzogen hat, hängt wesentlich mit all den tollen Leuten aus der Tierrechtsszene zusammen, die ich kennengelernt habe, nachdem ich einem kleinen Tierrechtsverein beigetreten war. Ich konnte mich vollkommen mit diesen Menschen identifizieren – nicht nur intellektuell, auf der Ebene ihrer rationalen Einstellung, sondern vor allem auch auf der persönlich-sozialen Ebene. Meine Entwicklung hin zum Veganismus ging dann – mehr oder weniger bewusst – wohl ungefähr so vonstatten: “Das sind alles so sympathische Leute. Sie schaffen es, vegan zu leben. -> Ich möchte das mit ihnen teilen, ich möchte auch vegan leben.”

    Allerdings konnte ich von Anfang an auch auf der rationalen Ebene den Argumenten meiner neuen TierrechtsfreundInnen folgen. Letztendlich muss wohl beides zusammenkommen, um dauerhaft eine vegane Lebensweise zu praktizieren: sowohl die Zustimmung zu deren rationaler ethischer Begründung als auch eine soziale Identifikation mit anderen VeganerInnen.

  4. Zumindest in einem hat der Herr Kaplan sicher nicht Recht:

    Eben dies ist ein schrecklicher Irrtum – aus einem einfachen Grund: Der MODEvegetarismus ist eine MODEerscheinung und Modeerscheinungen haben es so an sich, dass sie nicht von Dauer sind. Wer POLITISCH etwas ändern will, braucht auch ein politisches Programm! Die Gegner der Sklaverei hatten ein politisches Programm, Martin Luther King hatte ein politisches Programm und die Frauenbewegung hatte ein politisches Programm.

    Ein politisches Programm alleine hilft auch nicht auf Dauer. Man schätzt dass es heute bis zu 27 MIllionen Sklaven gibt. Es gibt Gesetze an die man sich nicht hält.

    Menschen neigen zum Egoismus, zur Ausbeutung und zur Unterdrückung. Wer sich nicht wehren kann wird unterdrückt und Tiere können sich nicht wehren. Ich glaube dass die meisten Menschen keine “moralischen” Entscheidungen treffen, sondern emotionale. In China produziert man z.B. billig und giftig für die Armen und für das Ausland. Die Oberschicht isst bio. Aber jetzt beginnt man umzudenken. Produkte aus Massentierhaltung sind auch für die Umwelt schädlich und teilweise giftig, viel Fleisch ist ungesund, deshalb ernähren sich wohlhabende Europäer eher bio und vegetarisch bis vegan. Das ist eine Frage der Bildung und des Einkommens. Massentierhaltung verlangt Antibiotika und das schafft gefährliche Keime die resistent werden. Intelligente Menschen werden schon deshalb gegen Massentierhaltung sein.

    Ich nehme an das wird jeder kennen, aber falls doch nicht: http://science.orf.at/stories/1712643/

    Sollte man vielleicht den Leuten schicken die sich für noch weniger Platz für Tiere einsetzen.

  5. “Erzählt doch zuerst einmal, warum du denkst, dass mindestens 70% ”

    Mich würde in der Tat mal interessieren, wieviele wirklich längerfristig dabeibleiben. Schon weil ich selbst Ex-Veganer bin, der gemerkt hat, dass es (für mich) nicht funktioniert. Wenn man im Berufsleben steht, viel unterwegs ist, viel eingeladen wird, oft auch zum essen, ist es eigentlich fast nicht möglich, sich rein vegan zu ernähren. Und man will ja auch nicht derjenige sein, der immer an allem “rummäkelt”, bzw für den es eine “Extrawurst” geben muss. Nach meiner Erfahrung ist vegan (noch) nicht alltagstauglich – zumindest was meinen Alltag betrifft.

  6. Ich denke auch dass diese Diskussion an der Realität vorbei führt. Denn in der Realität verteidigen Personen ihr Verhalten nach aussen, egal wie moralisch oder unmoralisch es ist. Das trifft sowohl auf das Fleischessen zu (sieht man ja oft genug in Diskussionen mit fleischessenden Personen) als auch auf VegetarierInnen. Jemand, der erstmal auf eine solche Ernährung umgestiegen ist, wird sich automatisch für diese einsetzen – und sich im Zuge dessen viel leichter auf neue Argumente dafür einlassen. Für jemanden, der sich vegetarisch ernährt, ist ein tierrechtlerischer Ansatz viel leichter zu akzeptieren, da er ja nur eine weitere Untermauerung der eigenen Ansicht darstellt – für jemanden, der Fleisch isst, ist der Tierrechtsansatz hingegen ein Schlag ins Gesicht – wird er/sie doch mit SklavenhalterInnen und ähnlichem gleichgesetzt was logischerweise eine Verteidigungshaltung auf den Plan ruft.

  7. “Was macht ihr eigentlich, wenn durch statistische Untersuchungen in ein paar Jahren sicher bekannt wird, daß mindestens 70% all derer, die sich heute großspurig “Veganer” nennen, längst wieder zur omnivoren Ernährung zurück gekehrt sind ? Was wollt ihr diesen Ex-Veganern dann noch erzählen ?”

    Erzählt doch zuerst einmal, warum du denkst, dass mindestens 70% (was mir persönlich ein bisschen hoch gegriffen vorkommt) der “heutigen” Veganer sich deiner Meinung nach in den nächsten Jahren von dieser Ernährungsform wieder abwenden sollen und was deine persönlichen Erfahrungen mit veganer Ernährung sind (wirst dich ja vermutlich nicht umsonst “Ex-Veganer” nennen?).
    So wirds schwer eine adäquate Antwort auf deine Frage zu finden, da sie mangels genauerer Angaben eher den Eindruck eines inhaltslosen Vorwurfs macht.

  8. Was macht ihr eigentlich, wenn durch statistische Untersuchungen in ein paar Jahren sicher bekannt wird, daß mindestens 70% all derer, die sich heute großspurig “Veganer” nennen, längst wieder zur omnivoren Ernährung zurück gekehrt sind ? Was wollt ihr diesen Ex-Veganern dann noch erzählen ?

  9. Danke für das Teilen dieser wichtigen Erkenntnisse. Die Schaffung einer “sicheren Umgebung” betrachte ich als Voraussetzung, damit Leute, die ihre moralischen/ethischen Dissonanzen(*) reduzieren wollen, erfolgreich sein können. (* d.h. z.B. die angenommene Richtlinie “Du sollst nicht töten.” auch konsequent auf nichtmenschliche Tiere auszuweiten)

    Oft begegne ich Verniedlichung oder Lächerlichmachung gegenüber Veganismus. Diese halte ich für besonders schädlich, da diese Akte den Anwesenden deutlich und wirkungsvoll mitteilen, dass sie durch Annahme eines veg*-Lebensstils “die akzeptierte Norm verlassen” würden und damit ein Verlust des “Schutzes der Gemeinschaft” oder andere negative Konsequenzen drohen. Dies halte ich für maßgeblich (unbewusst) entscheidungsbeeinflussend.

    Beispiel: Eine Zeitungsredakteurin entscheidet, sich probehalber für einen festgeleten Zeitraum vegan zu ernähren und einen Erlebnisbericht darüber als Zeitungsartikel zu verfassen. In so einem Fall teilen oft Kolleg*Innen schon vor dem Beginn unverzüglich “ihr Beileid” und andere Gemeinheiten mit. Heißt: “Du bist dabei, die soziale Norm erheblich zu strapazieren. Nimm Dich in Acht.”
    Noch ein Beispiel: http://www.greensoul.de/die-spiesige-pflanzenfresserin/

  10. Schwierig wird es, wenn sich Leute wegen gesundheitlicher Probleme wieder vom Vegetarismus abwenden. Passiert gar nicht so selten. Kenne selbst zwei solcher Fälle.

  11. Für mich klingen beide Ansichten plausibel: Wenn Vegetarismus/Veganismus in unserer Gesellschaft zur Normalität wird, dann werden sich wohl mehr Menschen “trauen” ihr Essverhalten, ihren Lebensstil dahingehend zu verändern. Andererseits kenne ich Leute, die ethisch nicht ausreichend gefestigt waren und so wieder bei ihren ursprünglichen Essgewohnheiten gelandet sind – allerdings hat hierbei in einigen Fällen durchaus auch die soziale Komponente (sozialer Druck) mit eine Rolle gespielt.

  12. Thumbs up für die Erwähnung des Buches “Change of Heart” und der Foot-in-the-Door-Technik!
    Habe das Buch vor ein paar Monaten als Ebook auf dem Kindle erworben und es bietet wirklich hervorragende Einblicke in die effektive Verbreitung von neuen Verhaltensweisen.

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