Mein Gesprächspartner aus der Psychologie teilt mein Vertrauen in das physikalische Weltbild. Wir beide wollen nicht von metaphysikalischen Gespenstern ausgehen, wenn wir die Welt zu verstehen versuchen. Die Naturgesetze gelten für alle Entitäten der Welt und es gibt nichts über diese naturgesetzlich-physikalische Welt hinaus. Soweit sind wir uns einig.
Doch wie versucht der Psychologe nun dem physikalischen Determinismus zu entkommen? Sein Konzept: Emergenz neuer Qualitäten. Das Gehirn sei zwar ein physikalisches System, aber ein so komplexes, dass dadurch neue Qualitäten entstehen, wie Bewusstsein, die in der Physik nicht mehr enthalten sind, sondern nur mehr mit Begriffen der Psychologie erklärt werden können. Und diese neuen Qualitäten des komplexen Gehirns könnten nun auf die physikalische Ebene zurückwirken. Für ihn löst sich damit jeder Widerspruch auf. Die Psyche sollen wir der Psychologie überlassen, die physikalische Welt der physikalischen Beschreibung, und die Übergänge verwischen wir durch unscharfe Begriffe.
Ich fürchte letzteres ist der Kern dieser Ausrede: die unscharfen Begriffe. Die physikalische Welt als Billardtisch mit Kugeln, die sich in irgendeiner Form bewegen und durch die Naturgesetze genau determiniert in einer gewissen Form weiterbewegen müssen, ist ein erstaunlich adäquates Bild. Tatsächlich tritt ja in der Quantentheorie jede Form der Kraft durch „Stöße“ mit kraftübertragenden „Teilchen“ auf, die Photonen für die elektromagnetische Kraft, die Vektorbosonen für die schwache Kernkraft und die Gluonen für die starke Kernkraft.
Die Emergenz neuer Qualitäten wäre dann die These, dass sich beim Billard mit einem immer größeren Tisch und mit immer mehr Kugeln plötzlich andere Regeln ergeben. Ab einer gewissen Kugelmenge und Tischgröße überblicken wir nicht mehr die einzelnen Zusammenstöße und verwenden statistische Begriffe oder finden statistische Gesetzmäßigkeiten. Z.B. werden Tischflächen, die wir mit einer Abgrenzung frei von Kugeln gehalten haben, sich bald mit vorbeirollenden Kugeln füllen, wenn wir die Abgrenzung entfernen. Für uns wirkt das wie ein neues „Naturgesetz“: das Füllen vormals leerer Flächen im statistischen Mittel. Was wie ein neues Gesetz wirkt, ist aber in Wirklichkeit durch die Stoßgesetze der Einzelkugeln fix determiniert.
Die These der Emergenz neuer Qualitäten in Sachen freien Willen lautet jetzt: im hochkomplexen Gehirn gibt es die neue Qualität des freien Willens aufgrund von Bewusstsein, der jetzt wieder auf die physikalische Welt zurückwirkt. Im Bild des „hochkomplexen“ Billardtisch bedeutet das: die Regel des Auffüllens leerer Flächen wirkt auf die Kugeln zurück und verändert deren Bahn, sodass sie der Regel genügen müssen und leere Flächen eben auffüllen.
Wir erkennen an diesem Bild den Fehler der Emergenzidee: Die scheinbar neuen Naturgesetze ergeben sich in Wirklichkeit zwingend aus den bereits bestehenden. Das allein schon deshalb, weil die bestehenden Naturgesetze jede Bewegung jedes physikalischen Objekts zu 100% und ohne jeden Spielraum bestimmen. Jedes zusätzliche Naturgesetz würde den bisherigen widersprechen, es ist also kein zusätzliches möglich. Die einzelnen Kugeln müssten plötzlich, wie von Geisterhand berührt, ihre Bahn verändern, ohne vorher angestoßen worden zu sein. Die Geisterhand des Bewusstseins. Und das finden wir in der physikalischen Welt aber nicht.
Ich fürchte die Idee der Emergenz neuer Qualitäten ist daher lediglich eine Ausrede, die auf unscharfen Begriffen und einem Unverständnis der Physik beruht und nicht dafür herhalten kann, einen freien Willen – oder sei es nur eine Wirkung vom Bewusstsein auf die Materie – zu erklären. Dazu bedarf es fundamentalerer Umstellungen im physikalischen Weltbild, die in meinen Augen auch notwendig sind. So einfach, wie sich das mein Gesprächspartner aus der Psychologie machen will, ist die Sachlage jedenfalls nicht.
Das Problem mit dem Bild vom Billardtisch ist, dass wir den Billardtisch und das was sich auf ihm abspielt vollständig überblicken können. Bei der Gesamtheit alles Seienden können wir das nicht. Deshalb können wir auch nicht mit Sicherheit sagen, ob dieselben Gesetzmäßigkeiten die wir in den uns zugänglichen Bereichen ausmachen (oder auszumachen glauben) auch in den uns nicht zugänglichen Bereichen gelten. Und wie der Begriff “Quantentheorie” schon besagt, handelt es sich dabei eben um eine Theorie.
Weiters möchte ich noch beisteuern, dass der Begriff “freier Wille” letztlich ein tautologischer ist. Gibt es so etwas wie einen “unfreien Willen” bzw. kann man dann noch von einem Willen sprechen?
Und schließlich: Wer ist denn der “Gesprächspartner aus der Psychologie”, und sagt er tatsächlich, dass die neuen Qualitäten DADURCH ENTSTEHEN, dass das Gehirn so komplex ist? Es würde für mich wesentlich mehr Sinn ergeben zu sagen, dass das Gehirn so komplex ist, dass es sich mit einem rein physikalischen Weltbild nicht mehr erklären läßt und man deshalb neue Qualitäten postulieren muß.