Schon einmal von Cas9 CRISPR gehört? Das New Scientist war außer sich vor Freude. Eine neue Technik der Genmanipulation wurde entwickelt, mit der man rasch, billig und ganz exakt Gene austauschen kann. Ja, wie freut sich da das TechnikerInnen-Herz, wie wird schon von der ach so spannenden Zukunft fantasiert, wenn man natürlich alle Krankheiten genetisch entfernen kann und wir endlich glücklich und gesund – vermutlich bis in alle Ewigkeiten leben, weil ja auch die Altersgene ausgetauscht werden. Es sei Zeit für eine öffentliche Diskussion, meinen die WissenschaftlerInnen zuletzt, will man das Ganze doch endlich auch auf die Menschen anwenden, das Designerbaby lockt. Wir könnten sogar die Intelligenz des Gehirns verzigfachen, wie wunderbar!
Mich erschreckt diese Entwicklung zutiefst. Mich erschreckt, dass es einige Menschen unter uns gibt, die es ernsthaft als positiv empfinden, so tief in das Grundgerüst von Lebewesen einzugreifen, die ein Bewusstsein haben und damit Autonomie verdienen. Mit Autonomie geht eine Würde einher, die Unantastbarkeit.
Ich glaube diesen Leuten auch keine Sekunde, dass sie die Menschheit vor Krankheiten retten wollen. In Wahrheit geht es um Neugier, um Geld, um Prestige, um Macht, darum, endlich doch einen Frankenstein entstehen lassen zu können. Und der Aufruf zur öffentlichen Diskussion ist der größte Scherz des Jahrtausends aus dem Munde dieser Leute. Wo bleibt denn die öffentliche Diskussion über Tierversuche? Wann wurde darüber je das Volk offen informiert und dann zu einer Entscheidung gebeten? Niemals, nicht ein einziges Mal. Sonst wären nämlich die Tierversuche, die mit CRISPR und anderen Methoden der Gentechnik durchgeführt werden, längst verboten. Im New Scientist werden die ersten Anwendungen von CRISPR vorgestellt, darunter ein genmanipulierter Schäferhund für die Polizei mit besonders großen Muskeln und viel Aggression. Wie zukunftsweisend! Hat jemand den Hund gefragt, ob er das will? Hat jemand die BürgerInnen gefragt, ob sie Hunden so etwas zumuten wollen?
Im Rahmen dieser Technik über Ethik und Empathie zu sprechen und damit ausschließlich die Menschen zu meinen, zeugt schon von unfassbarer Ignoranz. Und genau das ist so erschreckend: ein solche Technik in der Hand von Menschen zu wissen, die offensichtlich nichts von Ethik und Empathie verstehen, und noch viel weniger von Politik, sollten sie ernsthaft glauben, dass es über solche Dinge – oder überhaupt über irgendetwas, das wirtschaftliches Potenzial hat – eine offene Diskussion in der Gesellschaft geben kann. Die öffentliche Meinung wird nur als Hindernis gesehen. Das lehrt uns die Situation bei Tierversuchen.
Heute haben wir wesentlich mehr technische Hilfsmittel als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Abgesehen vom Leid, das wir damit über die Tierwelt gebracht haben – wurden wir Menschen dadurch glücklicher? Nein, im Gegenteil. Noch nie waren die Selbstmordraten so hoch, die WHO spricht von der Depression als der Krankheit, die die Menschheit am stärksten bedroht. Je mehr Technik, desto weiter entfremden wir uns von der Natur, und damit von uns selbst, ohne dass das den meisten Menschen bewusst ist. Denken wir an die IndianerInnen vor und nach dem ersten Kontakt zu den EuropäerInnen. Das freie, wilde Leben praktisch ohne jede Technik gegen das Dahinvegetieren im Reservat mit Sozialhilfe und allen Optionen, die die technisierte Gesellschaft so bietet. Mühsam und gefährlich ist nicht dasselbe wie schlecht, leicht und unbeschwerlich nicht dasselbe wie gut, wenn es um das Lebensgefühl geht.
Ich sitze im Regen in den obersteirischen Bergen. Es ist kalt und ungemütlich. Aber um keinen Preis würde ich mit irgendwem in der fernen Stadt jetzt tauschen, der seit der Früh im warmen Sofa vor seinem Computer sitzt, irgendein sinnloses Spiel spielt, und per neuester App mit dem Handy seine Pizza bestellt. Wer das nicht begriffen hat, segelt blind auf den Abgrund zu. Und nichts Anderes tut die Menschheit.
Lieber Martin, es ist ein 145 Jahre alter Brief eines englischen Physiologen überliefert, der Claude Bernard assistiert hat, einem der berühmtesten Forscher seiner Zeit.
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Ich möchte den Brief an dieser Stelle zitieren, weil er anderswo nicht besser passen könnte als zu diesen, Deinen Ausführungen über Tierversuche. Er zeigt, welch skrupelloser Geisteshaltung Tierversuche entsprungen sind bzw. wo die Forscher im 19. Jahrhundert falsch abgebogen sind.
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Obwohl der Brief nach seiner Veröffentlichung in der „Morning Post“ eine Welle der Empörung in ganz England auslöste und mitentscheidend für das Erstarken der ältesten Bewegung gegen Tierversuche war, ist die Grundhaltung insbesondere der tierexperimentellen Wissenschaft, in der technischer Fortschritt den geistigen überflügelt hat, bis heute eine kaum unantastbare Bastion. Allen Enthüllungen und Protesten über bzw. gegen Tierversuche zum Trotz.
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Und so sind nach dem folgenden Brief sind die Tierversuche in England von 1870 bis 1970 von wenigen mehreren Hundert Tieren pro Jahr auf 5.580.876 Tiere pro Jahr gestiegen. 1971 waren es noch mehr. Alle Proteste waren sinnlos … Wir brauchen wohl ein ganz neues Zeitalter und davor ein unaussprechliches Ereignis als Wendepunkt …
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Laboratorium von Claude Bernard, um 1870:
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„Ich möchte einiges aus meiner eigenen Erfahrung in dieser Angelegenheit vorbringen; einen Teil dieser Erfahrung sammelte ich als Assistent im Laboratorium eines der größten lebenden Expe-rimental-Physiologen. In diesem Laboratorium opferten wir täglich ein bis zwei Hunde, neben Kaninchen und anderen Tieren.
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Nach reicher Erfahrung bin ich der Ansicht, dass nicht ein einziger dieser Tierversuche gerecht-fertigt oder notwendig war. Der Gedanke an das Wohl der Menschheit kam überhaupt nicht in
Frage, und man hätte sogar darüber gelacht. Das große Ziel bestand darin, mit seinen wissen-schaftlichen Zeitgenossen Schritt zu halten oder sie gar zu überflügeln, sogar um den Preis eines unermesslichen Maßes von Folter, die unnötigerweise und ungerechterweise den armen Tieren zugefügt wird.
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Während dreier Feldzüge habe ich bei den Kriegsgreueln viele abstoßende Bilder gesehen, aber
ich glaube, dass das Traurigste, das ich je erlebte, der Anblick der Hunde war, die aus dem Keller herauf in das Laboratorium gebracht wurden. Statt sich über den Wechsel vom Dunkeln zum Licht zu freuen, schienen sie von Schrecken ergriffen zu sein, sobald sie die Luft des Ortes rochen und offenbar ihr nahendes Schicksal vorausahnten. Sie machten sich in freundlicher Weise an jede der anwesenden drei oder vier Personen heran und bettelten stumm um Gnade, mit Hilfe von Augen, Ohren und Schwanz, aber vergeblich.
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Wären die Gefühle der Experimental-Physiologen nicht abgestumpft, so könnten sie auf die Dauer nicht vivisezieren. Sie sind immer bereit, abzuleugnen, dass sie es an Mitgefühl fehlen lassen, aber ich muss sagen, dass sie selten viel Mitgefühl zeigen, im Gegenteil. Hunderte von Malen habe ich gesehen, dass sich ein Tier vor Schmerz wand, wodurch es die Gewebe während einer heiklen Sektion störte; statt das man das Tier besänftigte, gab man ihm einen Klaps und befahl ihm barsch, ruhig zu sein.
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Andere Male, wenn ein Tier stundenlang große Qualen ausgestanden hatte, ohne sich zu sträuben, und nur gelegentlich leise wimmerte, befreite man das arme, verstümmelte Geschöpf nicht von seinen Fesseln, um es mühsam herumkriechen zu lassen, in Erwartung eines weiteren Tages der Qual; anstattdessen hatte man so weit mit ihm Mitleid, dass man sagte, es habe sich gut genug aufgeführt, um den Tod zu verdienen; zur Belohnung wurde es sofort getötet durch Zerstechen des Markes mit einer Nadel.
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Eine der empörendsten Eigenschaften des Laboratoriums war die Gewohnheit, ein noch lebendes Tier, an welchem der Professor sein Experiment beendet hatte, den Assistenten zu überlassen,
um das Herausnehmen von Arterien, Nerven usw. am lebenden Tiere zu üben oder um das vorzu-nehmen, was man fundamentale Versuche nennt, mit anderen Worten, diejenigen Versuche zu wiederholen, welche in den Laboratoriums-Handbüchern empfohlen werden.
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Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, dass ich mich, nachdem ich den Kelch bis zur Neige getrunken habe, von all dem lossage; lieber würde ich die Wissenschaft, ja, sogar die Menschheit zugrunde gehen sehen, als zu solchen Mitteln greifen, um sie zu retten.”
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Dr. George Hoggan,
Physiologe
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„Die Wissenschaft hat sich verraten, indem sie sich zum Selbstzweck gemacht hat. Sie ist zur Religion geworden, zur Religion des Tötens, und sie will weismachen, dass es von den traditionellen Religionen des Sterbens zu dieser Religion des Tötens ein Fortschritt ist.“
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Elias Canetti,
Schriftsteller und Aphoristiker,
Träger des Nobelpreises für Literatur,
London
@Gonzessa:
Mit dieser Technik scheint alles möglich, z.B. beliebig viele menschliche Gene in Tiere verpflanzen oder auch völlig groteske Wesen schaffen. Es mag im Prinzip ähnlich zur Züchtung sein – und die ist ja wohl, wie Sie sagen, auch sehr kritisch zu sehen – aber das geht ja in der Praxis weit darüber hinaus. Die vielen Tierversuche zur Gentechnik zeigen ja, dass man mit Gentechnik viel mehr verändern kann, als mit Züchtung. Beim Lesen Ihres Textes bekomme ich den Eindruck, sie setzen ernsthaft Hoffnungen auf die Gentechnik. Hoffnung wofür? Die großen Probleme der Menschheit sind die Depression, aufgrund der Entfremdung von der Natur, Selbstmordrate, aus demselben Grund, Übervölkerung, Zubetonieren der Natur, Klimawandel durch viel zu viel Technik, völlige Zerstörung jedes selbstorganisierten Ökosystems durch viel zu viel Technik, Artensterben ohne Ende durch viel zu viel Technik und ähnliches. Wobei könnte da die Gentechnik helfen? Im Gegenteil, sie macht fast alle diese Probleme noch schlimmer. Der einzige Ausweg wäre eine absolut drastische Reduktion der Anzahl der Menschen, weite Teile der Natur zu Nationalparks erklären, die außerhalb jeglicher menschlicher Nutzung stehen, und die Technik auf allen Ebenen zurück zu schrauben. So sehe ich das jedenfalls. Ich war heute wieder im Wald und kam sehr sehr depressiv zurück. Alles kaputt gemacht, überall Forststraßen, Monokulturen, kein bisschen selbständige Natur. DAS ist das Problem.
Im Mittelalter würde fast der gesamte Wald Europas gerodet. Es gibt also jetzt mehr Wald als zu einer Zeit in der es kaum böse Technik gab. Man kann also nicht “Technik” per se verteufeln. Heutzutage wird wahrscheinlich ausschliesslich durch neue, immer bessere Technik gegen die Umweltzerstörung gekämpft werden können. Eine (staatlich verordnete oder wie???) Dezimierung der Menschen kann ja wohl kein ernst gemeinter Vorschlag sein.
Und wer soll die Technik auf allen Ebenen zurückschrauben? Die EU? Der Staat? Der verzweifelt versucht Arbeitsplätze herzuzaubern? Komplett unrealistische Vorschläge. Und um die Laborfleischtechnik wärs auch schad. Möglicherweise kann nämlich nur die das Tierleid irgendwann endlich beenden. Und sorry, nicht jeder der lieber vorm Computer sitzt als im Regen in der Kälte “segelt auf einen Abgrund zu”, was immer damit gemeint sein soll. Das find ich schon ziemlich überheblich alle Menschen die keine Waldfanatiker sind zu psycho Nerds zu erklären.
Ich würde gerne wissen inwieweit die Gentechnik sich ethisch von der seit Jahrhunderten von Jahren praktizierten Züchtung unterscheidet. Inwieweit ist es moralisch unterschiedlich ob ich ein Variation mit trial und error zu meinen Gunsten heranzüchte, oder es gezielt mit Gentechnik tue? Was ist neu an der Praxis ausser die mögliche bessere Effizienz? Eine Zeit lang wurden Samen mit atomarer Bestrahlung gentechnisch verändert. Darüber hat man nie etwas gehört, aber viele unserer Gemüsesorten sind so entstanden. Warum ist es moralisch schlechter Samen gezielt gentechnisch zu verändern als chaotisch mit Bestrahlung um zu schauen ob was brauchbares rauskommt? Warum ist es moralisch schlechter Tiere gentechnisch zu verändern als durch Züchtung Qualzüchtungen zu produzieren? Wiso sollen wir auf einen Abgrund hinzusteuern wenn sich doch jetzt erst endlich der Tierschutzgedanke laut macht (der in Gesellschaften die ohne Wohlstand und Komfort im Regen am Berg sitzen wegen der eigenen Nöten kaum ausgeprägt ist) und Veränderungen endlich, dank der Technik die eine weltweite Vernetzung ermöglicht, durchsetzen können?
Die Entwurzelung von Intuition und Empathie für die Umgebung durch die Entfernung von der Wildniss (i.e. solche Strukturen die uns erinnern dass die Welt von sich aus wächst und keinen Macher der alles regelt braucht) ist jedenfalls ein Riesenproblem. Die wundervolle Technik darf nicht unkontrolliert in die falschen Hände geraten.
Ich würde noch einen Schritt weitergehen und diese Technik als kriminell bezeichnen, von den Verantwortlichen ist leider nichts zu erwarten. Genauso wie bei der Kernkraft, deren Folgen nicht nur annähernd abschätzbar ist, wissen diese Forscher gar nicht was sie da anrichten.
Die Folgen hat aber die ganze Natur, die Erde und Ihre Lebewesen zu tragen. Verantwortungslosigkeit gepaart mit Gier nach Geld und Ruhm sind schlechte Voraussetzungen für eine Forschung, Spekulationen von degenerierten Gehirnen die glauben alles was technisch machbar ist auch umsetzten zu müssen. Selbstbeschränkung wäre das Gebot der Stunde.
Ja, Tierversuche finden leider statt obwohl die Mehrheit sie in der tatsächlich angewendeten Form ablehnt. Die Option sie eventuell zu unterlassen wird nicht mal in Erwägung gezogen.
Persönliche Vorlieben sind allerdings trotzdem keine gute Orientierung für die Beurteilung dessen, was gesellschaftlich als “gut” oder “schlecht” angesehen werden soll. Freilich ist es unvorteilhaft am Computer zu kleben und dabei bewegungsunfähig zu werden. Allerdings ist es auch nicht sinnvoll zu behaupten alle wären glücklicher wenn sie im Regen sitzen müssten. Es gibt noch deutlich mehr Möglichkeiten jenseits der zwei erwähnten beliebigen Optionen. Es ist grotesk zu behaupten, dass die Menschheit auf einen Abgrund zusteuern würde, bloß weil die meisten Leute es lieber trocken und warm als kalt und unbequem haben.