21. November 2024

Freiheit: wenn die Hundeleine das Bewusstsein ändert

Rumms fiel das Tor ins Schloss und das anschließende metallische Geräusch machte mir klar, dass ich nun eingesperrt war. Das Schlimme daran, in einer Zelle im Gefängnis zu sitzen, ist weniger der verkleinerte Lebensbereich. Vermutlich sitzt man öfters einmal über viele Stunden oder sogar Tage völlig freiwillig in einem kleinen Raum, ohne ihn zu verlassen. Das Schlimme am Gefangensein ist der Verlust der Autonomie. Es macht einen sehr großen Unterschied, ob man eingesperrt ist oder nicht, ob man einen Raum jederzeit verlassen könnte, auch wenn man das gar nicht will.

Gegenüber Tieren wird gerade das oft argumentiert, sie würden diesen Autonomieverlust nicht empfinden, sondern nur die Einschränkung ihres Lebensbereichs. Deshalb sei es viel schlimmer, Menschen einzusperren. Beim Lesen von Hilal Sezgins Buch „Artgerecht ist nur die Freiheit“ schien sie mir auch zu behaupten, dass es eine solche Autonomie für Tiere nicht gäbe, siehe https://martinballuch.com/artgerecht-ist-nur-die-freiheit-von-halal-sezgin-verlag-ch-beck-2014/. Darüber würde ich gerne mit ihr diskutieren. Im Umgang mit Tieren wäre in diesem Bild nämlich nicht das Gefangensein selbst das Problem, sondern nur die Größe des Gefängnisses oder, freundlicher formuliert, des Geheges. Aber ist das richtig? Spürt ein Tier keinen Autonomieverlust, sondern lediglich die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit?

Ich denke nicht. Erst gestern fiel mir wieder auf, wie sehr sich das Bewusstsein meines Hundefreundes Kuksi verändert, wenn er den leisen „Klick“ hört, und die Leine hängt an seinem Brustgeschirr. Plötzlich wird er ein ganz anderer Hund. Und das nicht erst, wenn er an das Ende seiner Leine stößt, sondern bereits in dem Moment, indem ihm bewusst wird, angehängt worden zu sein.

Wenn ich in einer Gruppe von Menschen auf der Straße mitgehe, dann ertappe ich mich oft dabei, den Personen vor mir einfach zu folgen, ohne darauf zu achten, ob wir uns gerade verlaufen, oder, noch schlimmer, ob die Ampel schon auf Rot gesprungen ist. Ich gebe meine Verantwortung ab. Ich achte weder auf den Straßenverkehr noch auf die Zielrichtung. Dasselbe erlebe ich bei Kuksi an der Leine. Vor dem „Klick“ noch ist er aufmerksam, achtet auf den Verkehr und betritt niemals einfach so die Fahrbahn. Danach geht er kreuz und quer, auch einfach auf die Fahrbahn hinaus, wenn es sich ergibt, und hat seine Verantwortung vollständig abgegeben. Eigenverantwortung ist aber Autonomie.

Wenn ich für einen Verein oder gar für die Gesellschaft Verantwortung übertragen bekomme, dann agiere ich pragmatisch, schlichtend, vorsichtig. Ich platze jedenfalls nicht einfach so mit neuen Vorstellungen und Ideen in die Entscheidungsgremien, als gäbe es kein morgen. Umgekehrt, wenn man keine Verantwortung hat. Dann kritisiert man laut und rückhaltlos alles, was einem auch nur irgendwie aufstößt, man schlittert leicht in eine reine Anti-Haltung und sieht nichts mehr Positives am „System“, oder meint, es nicht sehen zu müssen. Man ist nicht mehr pragmatisch, schaukelt auf statt zu schlichten und schiebt jede Vorsicht beiseite. Ähnlich geht es Kuksi. Ohne Leine nähert er sich anderen Hunden sehr vorsichtig, gibt Beschwichtigungssignale, schnüffelt freundlich und agiert sehr defensiv, selbst wenn er angebellt wird. Kaum angeleint knurrt und bellt er oft jeden Hund an wie ein Berserker, ohne Vorsicht, als gäbe es kein morgen. Wieder ist der Unterschied die Verantwortung, die mit der Autonomie einhergeht.

Diese Beispiele zeigen zweifellos, dass für einen Hund das Bewusstsein, er ist angeleint, wesentlich mehr ist, als eine bloße Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit. Es bedeutet für ihn – wie für mich in der Gefängniszelle – das Ende der Autonomie und damit der Eigenverantwortung. Und genau darin liegt das ethische Problem, Tiere gefangen zu halten. Nicht am Leid, das aufgrund der bloßen Bewegungseinschränkung auftritt, das ja mit immer größeren Gehegen beliebig reduziert werden könnte, sondern an der Beschneidung ihrer Autonomie. Dadurch werden sie nämlich nicht als Zweck an sich respektiert, also als ein Wesen, das autonomiefähig ist. Sie werden auf ihre Fähigkeit zu leiden reduziert. Was gut für sie ist, und was nicht, wird dann über ihre Köpfe hinweg entschieden. Und das macht für sie selbst einen himmelhohen Unterschied, auch wenn sie von sich aus gleich entschieden hätten.

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