Die intensiven Begegnungen der letzten Zeit mit den sogenannten „Critical Animal Studies“ (CAS) haben mich etwas vorsichtig gemacht. Die da oft gezeigte Arbeitsweise der Sozialwissenschaften scheint mir ideologisch herauszuholen, was vorher hineingesteckt wurde. Es ist mir bewusst, dass die Sozialwissenschaften Selbiges auch von der Naturwissenschaft behaupten, aber da irren sie. Ich habe selbst 12 Jahre lang an vorderster Front mathematisch-physikalische Forschung betrieben und kann sagen, auch mit kritischem Blick zurück, dass das praktisch völlig ideologiefrei ablief. Ob im realen Sozialismus oder im Kapitalismus, mathematisch-physikalische Erkenntnisse sind sich gleich. Jedenfalls ist es in der Naturwissenschaft das erklärte Ziel, alle Vorurteile abzulegen. Und mag das zunehmend schwieriger werden, je weiter man sich thematisch von der Mathematik entfernt, so ist es dennoch geboten, es zu versuchen. Die Sozialwissenschaften, wie ich sie kennenlerne, nehmen sich diese Mühe gar nicht, sie machen keinen Hehl daraus, ideologisch auf einer Seite zu stehen.
Ein und denselben Vorgang kann man, je nach Ideologie, völlig verschieden interpretieren. Ein bisschen habe ich mich daran erinnert gefühlt, als ich gestern den Vortrag von Timothy Pachirat hörte. Dieser junge Mann hat sich 5 Monate lang von einem riesigen Schlachthof anstellen lassen und dann seine Erfahrungen in einer Dissertation verarbeitet. Es war zweifellos sehr spannend, seine Ausführungen zu hören, wie unfassbar kalt und mechanisch alles am Fließband abläuft, nicht anders, als in einer Autofabrik. Das ist für mich der Skandal, der Umgang von Tieren wie mit Sachen, als Massenware in einer industrialisierten Tötungsfabrik. Pachirat hat aber zusätzlich alle möglichen Aspekte der Vorgänge in diesem Betrieb sozusagen psychologisch und symbolisch zu deuten begonnen und da frage ich mich, wie beliebig das ist. Würde eine Autofabrik nicht genauso ablaufen? Passen dann dieselben Deutungen, wie für den Umgang mit Tieren?
Sein Schlachthof war vergleichsweise human gestaltet. Der Bereich der Tötung ist von jenem Bereich, in dem die Tiere zusammengetrieben werden, durch Sichtblenden geschützt. Nach dem ersten Bolzenachuss steht ein eigener Arbeiter am Fließband, um jene Tiere noch einmal nach zu schießen, die zu früh wieder aufwachen sollten. Und überall gingen InspektorInnen herum, die alles ständig kontrollierten, wenn auch Pachirat aus seiner Erfahrung meinte, diese Kontrollen – hauptsächlich bzgl. Hygiene – seien eher Makulatur. Was würde man den SchlachthofbetreiberInnen vorschlagen, um den Gesamtvorgang noch humaner zu machen? Selbst der Zugang für die Tiere ist durch eine Autistin, die sich dafür berufen fühlt, so gestaltet worden, dass er am stressfreisten sei. Ich denke, die einzig relevante Forderung im Sinne der Tiere könnte nur sein, überhaupt nicht in der Masse zu schlachten. Im Ergebnis heißt das, zumindest bei weitem nicht mehr so viel Fleisch zu essen. Dahin dürfte aber der Weg noch weit sein.
Pachirat warf dann einen interessanten Punkt auf: Mit der Entwicklung der Zivilisation ging eine ständige Verschärfung der Entwicklung der Manieren und Tischsitten einher. Die ersten Benimm-Bücher sprachen noch davon, man solle nicht öffentlich Wasser lassen, flatulieren oder nackt herumlaufen. Das war zu einer Zeit, in der die erste Kritik an öffentlichen Hinrichtungen und Hetztheatern aufkam. Dann wurden die Tischsitten verfeinert, man müsse eine gewisse Reihenfolge der Bestecknutzung einhalten und dürfe nicht mit den Ellenbogen den Tisch berühren. Gleichzeitig begann man die Todesstrafe und den Schlachtvorgang hinter undurchsichtige Mauern zu verlagern. Tierschutz als Tischsitte. Eine so handfeste moralische Entwicklung, wie die Reduktion von „unnötigem“ Tierleid, nichts anderes als die oberflächliche, kleinbügerliche Anstößigkeit von „schlechten“ Tischmanieren? In einer öffentlichen Diskussion habe ich einmal gesagt, dass Fleisch ja nicht moralisch gut sein kann, wenn man seine Herstellung vor allem vor Kindern verstecken muss. Die Antwort der Vertreterin der Fleischindustrie war, dass man ja auch nicht öffentlich zeige, was man auf der Toilette tut. Tiere Schlachten auf gleiche Weise eklig, wie Fäkalien zu entsorgen – ein Hinweis auf die Richtigkeit der These.
Tischsitten dienen sicherlich auch dazu, sich von „den Tieren“ abzugrenzen. Fressen wird durch Tischsitten zum Essen, Menschen zu etwas ganz anderem als Tiere, die Kluft öffnet sich. Und diese Kluft erlaubt vielleicht gerade, das Tierleid zu einer schlechten Tischsitte zu reduzieren, anstelle es persönlich zu spüren und mit dem eigenen Leid, mit Menschenleid, zu vergleichen. Tischitten bieten in diesem Bild einerseits die moralische Basis dafür, Schlachthöfe überhaupt zu erlauben, andererseits die Schlachtung selbst zur Ekelvermeidung aus dem öffentlichen Blickfeld zu nehmen. Und das nennt sich dann Zivilisation.
Es gibt eine ganz gute “die Simpsons” Folge. Lisa als Vegetarierin. Sie heißt http://de.wikipedia.org/wiki/Lisa_als_Vegetarierin Wer das nicht kennt, sollte sie sich ansehen. Da gibt es auch eine Szene mit so einem Schlachthof, die genauso abläuft wie du hier den Vergleich ziehst.
Auf http://www.vegan.at liest man, dass Tierquälerei zuerst in der Öffentlichkeit verboten wurde. Das sagt eigentlich schon alles. Es gab Menschen die Quäerleien nicht einfach ansehen konnten, also hat man sie vor dem Anblick geschützt, weniger die Tiere vor der Quälerei. Genauso läuft das auch heute ab.