Einmal, vor ein paar Jahren, stöberte ich im Nachlass meiner Großtante. Eine Kiste voller alter Briefe, darunter ein Briefwechsel mit einer Frau aus Ljubljana, der sich über 7 Jahrzehnte hin zog. Der erste Brief war im Alter von 17 Jahren geschrieben, zu Silvester 1916, am Bahnhof in Wr. Neustadt. Er war der einzige fröhliche Brief. Ab dann wurde der Ton Jahr für Jahr melancholischer, trauriger, ja geradezu depressiv. Ein faszinierendes Dokument der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert aus subjektiver Perspektive! Doch mitten unter dem Haufen von Briefen fand ich auch einige von Onkel Rolli. Mein Onkel, wohlgemerkt, für die Großtante war er ein Neffe. Seine Briefe sind in eher neutralem Ton verfasst, ohne viel Emotion. Nur manchmal, wenn er von der Zukunft spricht, wird er fröhlicher. Einige Briefe haben als Absendeadresse „Im Osten“ angegeben, offenbar von der Ostfront, in den Jahren 1941-1943. Bei manchen Briefen sagt er explizit dazu, dass er nicht angeben dürfe, wo er sei.
Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, wie ich das gelesen habe. Es mag verschiedene Gründe geben, zu verschweigen, wo man gerade ist. Doch dann hielt ich einen besonders merkwürdigen Brief in der Hand. Darin steht, dass er an einem Ort ist, der furchtbar sei, noch furchtbarer als im Internat, das er, laut meiner Mutter (seiner Schwester), gehasst hatte. „Von wo schreibt er da?“, fragte ich meine Mutter, aber sie wusste es nicht.
Und dann, ja dann, fand ich Fotos. Viele Fotos. Onkel Rolli als kleiner Bub auf unserem Bergbauernhof in Tirol, Onkel Rolli mit meinen Großeltern, mit meinem Urgroßvater, mit seinen Geschwistern, mit meiner Mutter. Und dann … Onkel Rolli in SS-Uniform. Definitiv. Aber nicht nur das, deutlich war ein Totenkopf auf seiner Kappe und bei manchen Fotos auf seinem Revers zu sehen. Mein Onkel war also in der Totenkopf-SS, ein Schüler von Theodor Eicke, in jenem Teil der SS, die als Wächter in Konzentrations- und Vernichtungslagern eingesetzt wurde. Ich war baff.
Manche seiner Briefe hatten Feldpostnummern, manche waren von der SS-Division Wiking in der Waffen-SS, manche wiederum von der SS München. Ich wollte mehr erfahren und wandte mich zunächst an das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes. Die wiederum verwiesen mich an das Dokumentationszentrum in Berlin, wo alle noch verfügbaren SS-Akten archiviert werden. Telefonisch wurde mir aber gesagt, dass ich das Geburtsdatum meines Onkels angeben müsse. Meine Mutter wusste es aber nicht mehr. Sie wusste nur, dass er Ende 1944 als vermisst galt und nie wieder aufgetaucht ist.
Anfragen nach seinem Taufschein in der Kirchengemeinde seines Geburtsortes verliefen negativ. Man wollte dort die Information nicht herausgeben. Mit Hilfe anderer Personen fand ich schließlich einen Eintrag in einer Vermisstenliste des Roten Kreuzes. Das war er, eindeutig. Der volle Name und sein Geburtsdatum. Endlich. Damit bin ich wieder zum Dokumentationszentrum nach Berlin zurück und nun, nach einigem hin und her, halte ich seine SS-Akte in Händen. Natürlich lückenhaft, aber es lässt sich schon eindeutig rekonstruieren, wo er sich aufgehalten hat.
Unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich im März 1938 ging mein Onkel Rolli für 7 Monate zur HJ. Dann trat er mit 17 Jahren der SS bei. Der Totenkopf-SS wohlgemerkt. Und ging an die SS-Schule im KZ Dachau, wo man ihn zum KZ-Wächter ausbildete, von dieser Zeit stammt das Foto oben. Lauter 17 jährige Burschen, vom System verführt und gleichzeitig fasziniert. Dann muss er auch im KZ als Wächter gearbeitet haben, weil ich aus dieser Zeit sogar einen Gehaltszettel von ihm habe: angestellt im KZ Dachau!
Fast 3 Jahre später meldet er sich an die Front. Wie freiwillig das war, kann ich nicht sagen. Laut seinen eigenen Angaben schon, aber es ist bekannt, dass viele KZ-Wächter aus der Schule der SS-Totenkopfverbände an die Front befehligt wurden, um dort Erfahrungen zu sammeln. Jedenfalls beteiligte sich mein Onkel am Ostfeldzug im Rahmen der SS-Division Wiking, und zog bis in den Kaukasus. Nichts deutet darauf hin, dass er dabei in den Holokaust verwickelt war, aber ausgeschlossen ist es nicht. Schließlich kam er im August 1943, knapp bevor seine Division in einen Kessel geriet und fast völlig aufgerieben wurde, nach Prag. Genauer nach Hradischko, einem 44.000 ha großen SS-Areal südlich der tschechischen Hauptstadt. Die AnwohnerInnen waren vollständig entfernt worden und man hatte mehrere SS-Schulen errichtet, darunter eine Pionierschule, in die mein Onkel nun ging. Er war mittlerweile zum SS-Standartenjunker aufgestiegen. In Hradischko war auch ein KZ, ein berüchtigtes. Viele Informationen gibt es dazu nicht, aber es war ein Außenlager des bayrischen KZs Flossenbürg. Brutal soll es dort zugegangen sein. Wieviel er als SS-Schüler daran beteiligt war, kann ich aus den Akten nicht herauslesen.
1944 wollte er eine Frau heiraten. Sie hat auch eine SS-Ausbildung mitgemacht, aber ihre SS-Akte wurde mir aus Datenschutzgründen nicht ausgefolgt. Jedenfalls stimmen der Schulleiter und letztlich die SS-Führung der Hochzeit zu, sie wird für Sommer 1947 genehmigt. Onkel Rolli plant mit seiner Frau nach dem Krieg im Osten einen Bauernhof zu übernehmen. Doch im Oktober 1944, die Rote Armee steht kurz vor Warschau, bricht in Polen der Aufstand gegen die deutsche Besatzung los. Mein Onkel wird wieder an die Front gerufen. Im Häuserkampf gegen die polnische Armee in Warschau wird er im Oktober 1944 vermisst und höchstwahrscheinlich erschossen. Seine Verlobte überlebt das Pogrom gegen die Deutschen in Aussig – sogar ihr Geburtshaus konnte ich finden – und zieht nach Stuttgart um. Von dort aus schreibt sie noch viele Briefe an meine Großeltern, die sie als Schwiegereltern tituliert, über mehrere Jahre hinweg. Dann verliert sich die Spur. Ob diese Frau heute noch lebt?
Ich bleibe irgendwie benommen zurück. Was war das für eine Zeit, in der 17 jährige Burschen derartig vereinnahmt wurden. In der man eine solche „Karriere“ machen konnte. In der aber auch die Gewalttätigsten und Grausamsten unter den Menschen das Sagen hatten. Das Dritte Reich hat die kältesten und brutalsten Menschen nach oben gespült. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Rechtsruck heute ähnliche Weichen stellt. Der Ton wird rauer, gewalttätiger. Die brutalen Menschen unter uns trauen sich mehr und mehr an die Öffentlichkeit. Hasstiraden gegen Minderheiten werden salonfähig, wer sich für Menschlichkeit und Toleranz ausspricht, wird verunglimpft. Mir schaudert nicht nur vor der Vergangenheit, sondern auch vor der Zukunft.
Ein wirklich guter Text, der mich an die Geschichte meines Großvaters erinnert, der heute mit 93 Jahren noch lebt und sich mit 17 Jahren freiwillig zur SS gemeldet hat, jedoch wegen seiner Körpergröße nicht genommen wurde. 2 cm größer, und sein Schicksal würde anders aussehen. 2 cm größer, und ich würde wahrscheinlich nicht existieren. Was 2 cm ausmachen können.
Zu Ihrem letzten Absatz, lieber Martin Balluch, erlaube ich mir die Bemerkung, dass Sie die von Ihnen hervorragend beschriebenen Ereignisse um Ihren Onkel Rolli – meiner bescheidenen Meinung nach – vollkommen falsch interpretieren.
Ich unterhalte mich auch heute noch oft mit meinem Großvater, der ca. im selben Jahr wie Ihr Onkel geboren sein muss, über die Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Aus diesen Gesprächen kam ich zur Überzeugung, dass es zutiefst unfair ist, die Zeit damals mit unserem heutigen Erkenntnisstand zu messen und zu bewerten. 1938 gab es weder Konzentrationslager noch einen Vernichtungskrieg. 1938 gab es hingegen weitreichende Armut, oft auch Hunger und nationenweit ein tiefsitzendes Gefühl der ungerechten Demütigung aufgrund des Versailler Vertrages. Die ganze Welt war in einer Wirtschaftskrise (in den USA “the great depression” genannt), doch die besiegten Nationen Deutschland und Österreich hatten zusätzlich noch die Bürde der Reparationszahlungen zu schultern. Stefan Zweig beschreibt diese Zeit in seinem Meisterwerk “Die Welt von gestern”, indem er sich daran erinnert, wie englische Arbeitslose mit ihrem Arbeitslosengeld sich die feinsten Hotels in Österreich leisten konnten. Dieses Gefühl der Demütigung war also nicht grundlos. Und es waren nicht die kältesten und brutalsten Menschen, die es ablehnten sich weiter ihrem kargen Schicksal zu ergeben, sondern die engagiertesten. Es wäre bequem zu sagen, Hitler und seine Leute nutzten dies alles aus. In Wahrheit repräsentierten Hitler und seine Leute nichts weiters als den kollektiven Volkswillen indem er versprach das Unrecht nicht weiter hinzunehmen. Und die Waffen-SS hatte damals – als es weder KZs noch Kriegsgräuel gab – genau denselben Status wie die US-special operation forces heute haben. Viele Buben träumen davon, dort dabei zu sein. In diesem Kontext müssen Sie die Entscheidung Ihres Onkel Rollis (oder meines Großvaters) sehen.
Nun zum schwierigsten Teil, den Vergleich damals zu heute. Damals gab es sicherlich ein Mandat für Hitler ein gefühltes nationales Unrecht abzustellen. Es gab jedoch kein Mandat für Holocaust und Progrome. Weder mein Großvater noch (sehr wahrscheinlich) Ihr Onkel Rolli wäre jemals für so etwas gestanden. Die heutigen Rechtspopulisten repräsentieren in erster Linie die schnell wachsende Anzahl der Automatisierungs. und Globalisierungsverlierer. Wenn man zustimmt, dass diese – oft schlechter ausgebildete – Schicht (A) existiert und (B) diese Menschen ein Recht haben gehört und politisch vertreten zu werden, dann sollte man sich fragen wer bisher die Vertretung dieser Leute übernahm. Die Gewerkschaften? Die Grünen? Die Sozialdemokraten? Meine Antwort: Keiner davon! Und das ist der einzige Grund für die Wahlerfolge der Rechtspopulisten!
Die Rechtspopulisten haben also ein Mandat die Interessen der Automatisierungs- und Globalisierungsverlierer politisch zu vertreten, weil es niemand anderer tut … das was uns Angst macht ist jedoch, was sie mit ihrem Mandat machen, sobald sie an die Macht kommen. Niemand weiss das! Doch die Legitimation der Rechtspopulisten in einem demokratischen System ist meiner Meinung nach unbestritten.
danke für den text!
den letzten absatz könntest du gerne nöch größer herausstreichen! 🙂
Hi Martin,
das ist wirklich interessant. Und wir alle wissen wohl nicht, welche Verwandten wir haben (hatten).
Mein Opa war auch seltsam…er war in Stalingrad und hat den Gefrierorden bekommen, weil er das überlebt hat. Und geriet auch in Gefangenschaft und war dann aber irgendwie, Genaues ist mir leider nicht bekannt, so eine Art Aufseher im Lager in Russland…und hat den Gefangenen immer wieder Essen zugesteckt…ich weiß nicht, wie er da gemacht hat.
Interessanterweise wurde mein Opa dann Kommunist, einer ersten und wenigen in Melk/NÖ. Unsere Familie war dann als die “Kommunisten” verschrieen…
Warum mein Opa Kommunist wurde, nachdem er das in Russland erlebt hatte, fragte ich mich oft. Leider war ich zu jung damals, um ihn zu fragen. Er lebt schon lange nicht mehr.
Ich habe dann mal recherchiert und erfahren, viele Soldaten sind aus Trotz zum Kommunismus gewechselt, manche sind sogar freiwillig in Russland geblieben, obwohl sie hier Familie hatten. Weil sie so sauer waren, dass man sie im Stich gelassen hatte…
Vielleicht hat sich mein Opa Ähnliches gedacht. Er war politisch sehr interessiert, hat jeden Tag Zeitungen und Zeitschriften gewälzt und war immer auf Seite der Russen, was mich manchmal belustigt hat als Jugendliche. Der Russ´ hat immer alles erfunden, der Amerikaner bloss abgeschaut…so seine Meinung…
Seltsam…was ist wohl in den Menschen vorgegangen. Mir tut es sehr leid, dass ich nicht nach alldem gefragt habe. Leider lebt niemand mehr, den ich fragen könnte, aber ich denke immer wieder darüber nach.
Opa der Kommunist – an sich ist es ja nichts Schlechtes, leider ist die Grundidee auch an Gier und Macht gestorben.
Liebe Grüsse,
Marion