22. Dezember 2024

Vegan und Wildnis – ein Widerspruch?

SurvivingAlaskaGestern sah ich einen Film mit dem Titel „Surviving Alone in Alaska“ über einen Mann namens Heimo Korth, der im Norden von Alaska seit 35 Jahren in 3 verschiedenen Blockhäusern über 100 km vom nächsten Menschen entfernt lebt. Irgendwann fand er sich eine Indianerin zur Frau und hatte 3 Kinder, die bereits ausgezogen sind und in Fairbanks wohnen, der zweitgrößten Stadt dieses Bundesstaates der USA.

Mich hat dieser Film sehr irritiert. Das ist sicher meine persönliche Geschichte, diese Irritation, weil für mich die nördliche Wildnis etwas unheimlich Anziehendes hat und ich gleichzeitig seit 1989 strikt vegan lebe. Heimo Korth, der in diesem Film vorgestellt wird, tötet Tiere. Sein ganzes Haus ist mit aufgeschlitzten Tierleichen behängt und den ganzen Tag scheint er nichts anderes zu tun, als Tiere zu töten. Er stellt Fallen auf, die aus Metallschlingen bestehen, und fängt damit z.B. etwa 150 Marder und zahlreiche andere Tiere wie Luchs, Wolf, Vielfraß, Fuchs und Wiesel jeden Winter. Dann fängt er Fische und schlägt ihnen den Schädel ein, erdrosselt Schneehasen, schießt Eichhörnchen von den Bäumen und ertränkt Biber in Schlingenfallen. Er lebt weit nördlich des Polarkreises und kann sich dort oben vermutlich nicht anders ernähren. Da wird klar, wie sehr die Zivilisation erst die Möglichkeit eröffnet, ethisch zu leben. Nur die Organisation in einer menschlichen Gesellschaft schafft den Freiraum, entscheiden zu können, was man tut und ob man sich freiwillig beschränkt, um anderen nicht zu schaden. Heimo Korth könnte sich vermutlich nicht beschränken, ohne sein Leben dort oben im Norden zu gefährden.

Keine Ethik? Heimo Korth würde widersprechen. In dem Film wird er zwar nie richtig herausgefordert, sich zu rechtfertigen, aber es wird klar, dass er zumindest behauptet, Menschen nicht so einfach zu töten, wie er das mit anderen Tieren tut. Für ihn besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier und Menschenrechten stimmt er sicher zu. Er wirkt auch im Film wie ein sehr netter und umgänglicher Mann. Man sieht ihn mit seiner Frau um eines seiner Kinder trauern, das in einem Fluss ertrunken ist. Allerdings hat er schließlich nur mit seiner Familie und einigen Gästen zu tun. In derselben Gegend haben vor hunderten Jahren noch Indianerstämme in einer Steinzeitkultur gewohnt. Diese Menschen waren sicher ihrer eigenen Familie und ihren Stammesmitgliedern ebenfalls sehr verbunden, aber haben sie das Lebensrecht anderer Stämme respektiert, wenn diese Ressourcen hatten, die sie wollten, und zu schwach waren, um sich zu behaupten? Ich denke nicht. Die Wildnis bietet keinen Freiraum für zweckungebundenen Altruismus. Korth kann sich zufällig seine Menschenrechtseinstellung leisten. Die Gesamtgesellschaft zwingt ihn auch dazu. Unter anderen Umständen würde er das nicht tun, vermute ich.

Diese ethisch äußerst seltsame Einstellung dieses Mannes zeigt sich an vielen Stellen im Film. Zum Beispiel hält er sich einen Hund, den er, unfassbarer Weise, in dieser Wildnis immer an der Kette hält! Selbst bei 60 Grad unter Null muss der Hund draußen an der Kette liegen. Man sieht ihn nie den Hund herzen oder sich näher mit ihm beschäftigen. Einmal sagt er kurz, er ist dagegen, Hunde in Häuser zu lassen. Häuser sind offenbar nur für Menschen. Einer seiner Hunde wurde einmal draußen an der Kette von einem Grizzly getötet. Wie brutal und herzlos ist dieser Mensch eigentlich? Dann sagt er noch, dass manche Menschen in der Zivilisation Hunde als Familienmitglieder sehen. Da wird er kurz aufgebracht und erklärt, dass das falsch sei. Zwischen Mensch und Tier bestehe ein himmelhoher Unterschied, den solle man nicht verwischen. Ein notwendiges Mantra für seine Lebensweise?

Ich würde gerne mit Heimo Korth darüber diskutieren. Was, meint er, ist denn der große Unterschied zwischen Mensch und Tier, dass man die einen freundlich in die Hütte lässt und die anderen sofort abknallt oder in Fallen fängt, wenn sie sich zeigen? Ich vermute, er würde nicht religiös argumentieren. Wahrscheinlich würde er sagen, das sei selbstverständlich und aus. Ich erwarte jedenfalls nicht, dass er ernsthaft glaubt, ein Mensch würde in einer solchen Falle weniger leiden als ein Schneehase, oder weniger an seinem Leben hängen als ein ertrinkender Biber. Diese „Ethik“ stammt nur aus der Praxis: anders geht es nicht und deshalb werden keine weiteren Gedanken zugelassen.

Einmal findet Korth im Film Spuren eines Braunbären in Hausnähe. Sofort nimmt er seine Schusswaffen und versucht das Tier zu töten. Tag und Nacht lauert er dem Bären auf und erschießt ihn schließlich. Korth scheint zu meinen, Bären dürfe man überhaupt nicht dulden, jede Nähe ist eine Gefahr. Wie seltsam für mich, der ich schon mehr als 20 Mal Braunbären ohne jeder Waffe begegnet bin und mitten unter ihnen gezeltet habe. In den Südkarpaten findet man fast an jedem Morgen frische Bärenspuren ums Zelt. In seinen 35 Jahren in Alaska hat er sich offenbar eine echte Phobie vor Tieren angeeignet. Wenn man Tiere sofort tötet, wenn man sie sieht, und jedes Tier, das stärker ist, so extrem fürchtet, dann ist das Verhältnis zu Tieren völlig aus dem Gleichgewicht. Da erscheint mir jeder Mensch aus der Zivilisation, der manche Tiere vielleicht anthropomorphisiert und gleichzeitig ohne nachzudenken das Fleisch anderer Tiere aus Tierfabriken konsumiert, dann aber über die Zustände dort entsetzt ist, wenn man sie ihm zeigt, und seinen Hund nie an der Kette einer solchen Kälte aussetzen würde, viel weniger „gestört“, als dieser Mann, der für solche Menschen nur Verachtung übrig hat.

Aber eines wird beeindruckend offensichtlich, wenn man den Film anschaut. Es ist eine große Leistung der Zivilisation, derartig viele Menschen zu ernähren und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit zu bieten, sowohl untereinander als auch anderen Tieren gegenüber ethisch zu handeln und z.B. vegan zu leben. Das ist bei weitem keine Selbstverständlichkeit.

3 Gedanken zu “Vegan und Wildnis – ein Widerspruch?

  1. Hier noch eine berührende Doku über Agafia Lykov, eine fast 70-jährige Frau, die 1944 in der sibirischen Wildnis geboren wurde und ihr ganzes Leben dort verbracht hat, fernab jeglicher Zivilisation. Ihre Eltern waren als altorthodoxe Christen 1936 ins Sayan-Gebirge geflohen, um der Verfolgung der Stalinisten zu entgehen. Mehr als 40 Jahre lang hatten sie keinerlei Kontakt mit anderen Menschen und wurden erst 1978 von Geologen “entdeckt”. Kurz darauf starben die drei älteren Geschwister an einer Lungenentzündung, die sie sich wohl durch diesen ersten Kontakt mit Fremden geholt hatten. Agafias Mutter war schon 1961 verhungert, und nachdem ihr Vater 1988 starb, lebte sie 9 Jahre lang allein in der Wildnis. 1997 ließ sich dann ein Geologe in ihrer Nähe nieder, worüber sie allerdings nicht sehr glücklich ist, da er ihr nachgestellt hat und im täglichen Leben eher eine Belastung als eine Hilfe ist.

    Auch sie hält eine Hündin ständig an der Kette (weil letztere nach Agafia sonst “eine Schweinerei veanstaltet”), aber im Gegensatz zu Korth vertreibt sie die Bären dadurch, dass sie in die Luft schießt, und durch religiösen Gesang. Ihre Ernährung scheint nach dem, was in dem Film zu sehen ist, auch weitaus weniger Fleisch-lastig zu sein.

    http://www.youtube.com/watch?v=tt2AYafET68

  2. “Wie seltsam für mich, der ich schon mehr als 20 Mal Braunbären ohne jeder Waffe begegnet bin und mitten unter ihnen gezeltet habe. In den Südkarpaten findet man fast an jedem Morgen frische Bärenspuren ums Zelt.”

    Ich bin vor vielen Jahren auch mehrfach Bären ohne jede Waffe in freier Wildbahn begegnet, und das ist ebenfalls ohne beiderseitigen Schaden vor sich gegangen. Im Gegensatz zu Dir habe ich mich dabei allerdings eher unwohl gefühlt.

    Obwohl ich weiß, dass es sehr unwahrscheinlich ist von einem Bären angegriffen oder gar getötet zu werden, wenn man einige Vorsichtsregeln beachtet, würde ich heute sicher
    ein Bärenspray und wahrscheinlich auch so etwas mitnehmen:http://www.youtube.com/watch?v=CquJLc6B9AE
    (siehe auch: http://www.youtube.com/watch?v=Sv2G-aRDvyY)

    Gegebenenfalls wäre das zwar eine unangenehme Erfahrung für den Bären, aber letztlich auch zu seinem/ihrem Vorteil (besonders Bärenmütter neigen ja dazu, sofort anzugreifen, wenn man Ihnen zufällig in Begleitung ihrer Jungen über den Weg läuft). Denn jeder Angriff eines Bären auf einen Menschen liefert den Bärengegnern ein Argument, warum Bären in unseren Breitengraden nichts zu suchen haben, und in der Regel wird der betreffende Bär dann als “Problembär” gejagt und erschossen.

  3. “… und ich gleichzeitig seit 1989 strikt vegan lebe”.

    Was ist die genaue Definition von “strikt vegan”? Wie ich schon in einem früheren Kommentar einmal geschrieben habe, nehmen wir doch alle die Tötung von fühlenden Lebewesen in Kauf – manche mehr, manche weniger. Und während ich es auch nicht nachvollziehen kann, dass jemand ein Lustgefühl dabei verspürt, wenn er/sie ein Lebewesen jagender Weise zu Tode bringt, macht es doch aus der Sicht des jeweils getöteten Tieres keinen Unterschied ob es nun durch eine Gewehrkugel stirbt, von einem Wanderer zertreten oder einem Auto überfahren wird.

    Deiner Argumentation mit der Autonomie kann ich zwar weitgehend folgen, und eine zertretene Ameise hat sicher eine autonomeres Leben gehabt als ein geschlachtetes Schwein aus der Massentierhaltung. Aber das Erschießen eines Bären und das Zertreten einer Ameise greift, wieder aus der Sicht des jeweiligen Tieres gesehen, doch in gleicher Weise in das autonome Leben des Tieres ein, indem es ihm einfach ein Ende setzt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass das Töten in dem einen Fall bewußt durchgeführt und in dem anderen bewußt in Kauf genommen wird.

    Ich gehe auch gerne in die Berge und bewege mich im Straßenverkehr etc. Für das Dilemma, dass ich durch die Einschränkung meines Bewegungsradiusses und der Beschränkung auf ein bestimmtes Terrain sicher um ein Vielfaches weniger Tiere töten und um ein Vielfaches weniger Leiden verursachen würde als dadurch mich mein ganzes Leben lang pflanzlich zu ernähren, habe ich für mich bis jetzt noch keine befriedigende Antwort bzw. Lösung gefunden.

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