Die UtilitaristInnen sind ja ExpertInnen bei Glücksgefühlen. Sie können sie addieren, und zwar sogar jene von verschiedenen Wesen, und dann subtrahieren sie Leid und dann maximieren sie das Ganze und dann wissen sie, wie ethisch richtig zu handeln ist. In diesem Bild ist das Leid eineR RassistIn (z.B. wenn jemand leidet, weil subjektiv „zu viele“ Menschen mit anderer Hautfarbe in seiner/ihrer Umgebung leben) und das Leid eines Opfers von Rassismus (z.B. durch Ausgrenzung und Abwertung) numerisch grundsätzlich gleich einzubeziehen. Und Ähnliches gilt für Glücksgefühle. Altruismus gäbe es gar nicht, alles sei letztendlich Egoismus. Auch AltruistInnen würden sich nur egoistisch selbst befriedigen, indem sie ihre Lust, anderen zu helfen, ausleben.
Ich habe das anderswo bereits kritisiert, siehe https://martinballuch.com/bemerkungen-zum-utilitarismus-leid-ist-nicht-leid/. Jetzt fühle ich mich durch einen 4-seitigen Feature-Artikel im New Scientist vom 28. Jänner 2017 (Seite 30) naturwissenschaftlich bestätigt. Dort wird von Studien berichtet, die Hirnaktivität bei hedonistischen Glücksgefühlen (Party, Essen, Spaß) mit Hirnaktivität bei eudämonistischen Glücksgefühlen (Probleme lösen, Ziele erreichen, Altruismus) vergleichen. Und siehe da, gänzlich andere Zentren seien aktiv. Wörtlich: „You can feel similarly, but the biology looks notably different“. Aber nicht nur das. Es werden bei den jeweiligen Glücksgefühlen auch ganz andere Gene aktiviert. Interessant dabei: die hedonistische Genaktivität wird mit größerer Krankheitsanfälligkeit, die eudämonistische mit größerer Krankheitsimmunität verbunden. Die Wirkung sei ähnlich stark wie beim Rauchen.
Konkret zeigen Studien, dass die Wahrscheinlichkeit zu sterben bei einem sinnerfüllten (eudämonistisch glücklichen) Leben über 10 Jahre hinweg um 30 % sinke. Die Herzinfarktrate ginge um 27 % zurück, Schlaganfall um 22 % und Alzheimer um 50 %. Bei weiteren Studien mit 9000 TeilnehmerInnen aus England und 7000 aus den USA sei weniger Alkoholismus aufgetreten und ebenso habe es weniger Schlafstörungen gegeben. Das sinnerfüllte Glück ist also für die Gesundheit wichtig, das reine Spaß-Lust-Glück ist dagegen der Gesundheit abträglich.
Die AutorInnen erklären dabei, dass diese Sinnerfüllung der Eudämonie keiner allumfassenden Dimension bedarf. Es reiche, so steht hier, eine Bergtour zu gehen: „Striving for something that isn’t necessarily constructive, like climbing a mountain, may be enough to create the health-boosting effect“. Wohlgemerkt: die gesundheitlich positive Wirkung ist hier nicht durch die Bewegung in der frischen Luft gegeben, sondern durch die Art der Glücksgefühle, die die erfolgreiche Bergtour in einem auslöst!
Für das Erreichen von Zielen, und damit für das eudämonistische Glück, kann man durchaus im hedonistischen Sinn leiden müssen. Einen Berggipfel kann ich bequem mit der Seilbahn erreichen und mich dabei nicht anstrengen. Ein eudämonistisches Glücksgefühl wird sich dadurch nicht einstellen. Dafür ist es nötig, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden und sich anzustrengen und die Steigung zu Fuß zu überwinden. Das ist durchaus unangenehm und man leidet. Doch das sinnerfüllende Glück ist es wert.
So einfach, wie sich das der Utilitarismus macht, ist es also nicht.
Deine Zusammenfassung stellt nur fest, dass es unterschiedliche Arten von Glücksgefühlen gibt. Du erwähnst ja sogar explizit, dass auch “nicht konstruktive Ziele” den selben Effekt wie klassischer Altruismus haben können. Was hier entdeckt wurde halt also nichts mit einer Unterscheidung zwischen Hedonismus und Altruismus zu tun.
Dem entsprechend steht nach wie vor der Idee nichts im Wege, dass Altruismus bloß eine Form von Egoismus ist, die durch eine nicht näher erklärte Dynamik gesundheitlich positive Auswirkungen hat. Wobei für so eine Feststellung natürlich viel davon abhängt anhand welcher Attribute in dieser Studie Altruismus von Hedonismus unterschieden wurde.