Er halte die heutige Zeit für die bisher lebenswerteste in der Menschheitsgeschichte, erklärte mir ein Kollege im VGT. Von der medizinischen Versorgung über die grandiose Technik und die Demokratie bis zum Schutz durch den Rechtsstaat und die Bequemlichkeit des Lebens, alles doch wunderbar im Vergleich zur wilden Natur. Letztere mache ihm Angst, da könne man ja keine Minute überleben. Niemand würde in die Steinzeit zurück wollen, bei all dem Fortschritt heute.
Was für ein seltsamer Blick auf die Welt. Hinter Doppelglasscheiben hervorgeschaut, und ohne jede persönliche Erfahrung, wirkt die Natur abseits von Stadt und Polizei offenbar tödlich. Darum ein kleiner Exkurs in die Steinzeit.
Der Blick vom Gipfel
Gedränge in der U-Bahn. Weitergehen, nicht stehen bleiben. Am nächsten Tag habe ich es eilig, schneller, schneller, warum gehen die Leute vor mir so langsam! Es hupt auf der Straße, keine Zeit einen Parkplatz zu suchen, die Leute müssen weiter, weiter. Kein Platz im Park, kaum ein Fleckchen am See. Was machen Sie da? Dürfens denn des? Achtung Privateigentum! Haben Sie eine Genehmigung? Und Ihr Hund ist nicht an der Leine!
Ein Blick von einem waldigen Gipfel in Österreich. Forststraßen und einheitliche Fichtenmonokulturen, soweit das Auge reicht. Und auch hier fräst sich eine breite, unterschotterte neue Straße ihren Weg zwischen die letzten alten Waldbestände.
30.000 Jahre zurück, auf demselben Gipfel. Urwald, in alle Richtungen. Weit und breit kein Mensch der hupt, drängt oder weiter muss. Die große Ruhe. Ein intaktes Ökosystem, um jede Ecke neue Überraschungen, eine große Artenvielfalt, ein Mischwald, Bäume jeden Alters. Viel Totholz, von verschiedenen Tiergesellschaften bewohnt. Ein wunderbares Chaos. Ich hatte in Neuseeland das Glück, einen solchen Blick in einen großen Urwald werfen zu können. Das Gefühl ist unübertroffen.
Keine Einsamkeit
Vor 30.000 Jahren haben unsere VorfahrInnen vermutlich in größeren Familienverbänden gelebt, die in einem Netzwerk zu einem Stamm verbunden gewesen sein dürften. In der Massengesellschaft heute sind alle Menschen austauschbar. Streite ich, suche ich mir einfach die nächsten SozialpartnerInnen, gibt ja genug. Keine Zeit, in die Lösung von Konflikten zu investieren. Die Folge ist die innere Einsamkeit, trotz lautem Trubel.
In der JägerInnen-SammlerInnen Gemeinschaft sind wir voneinander abhängig. Niemand kann alleine überleben, wir werden uns also immer zusammenraufen. Im gemeinsamen Bestehen von Gefahren wachsen wir zusammen. Einsamkeit gibt es nicht.
Kein Arm und Reich
Die Schere zwischen Arm und Reich klafft bei uns heute immer weiter auseinander. Absurd, wieviel Geld manche Menschen besitzen, niemals wäre das mit „ehrlicher Arbeit“ möglich. Davon geht eine große Macht aus, mit dem entsprechenden Einfluss auf Demokratie und Rechtsstaat. Von Gerechtigkeit kann keine Rede sein. Einzelne Menschen heute können ganze Staaten und riesige Ländereien aufkaufen, oder auch die Medien und damit die öffentliche Meinung.
In den Nomadengesellschaften von vor 30.000 Jahren gab es kein arm und reich. Der Besitz beschränkt sich auf Gegenstände, die man mit sich mittragen kann. Dadurch braucht man auch, umgekehrt, keine Angst vor Diebstahl zu haben.
Kein „Betreten verboten!“
Es war Jean-Jacques Rousseau, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass die ganze Misere menschlicher Ungleichheit mit jenem Menschen begann, der erstmals ein Stück Land einzäunte und zum Privatgrund erklärte, den niemand betreten darf. Wenn man keine SöldnerInnen bezahlen kann und wenn es keine Reichtümer und Ländereien zu gewinnen gibt, wird man keine Kriege führen.
Eigentlich ist es doch wirklich absurd, dass ein Berg oder eine Landschaft irgendeiner Privatperson gehören soll. Ah ja, und die Luft darüber und das Wasser darin genauso. Erkläre einem Steinzeitmenschen, dass man später einmal dafür arbeiten wird müssen, überhaupt ein Land betreten, Wasser trinken oder vielleicht bald auch Luft atmen zu dürfen, und er wird sich an den Kopf greifen.
Keine Hierarchie
Ohne die Möglichkeit, Eigentum anzuhäufen, ohne Vasallen, Gefangene oder Leibeigene, macht es keinen Sinn, Hierarchien auszubilden. Wem sollte man was befehlen? Alle sind voneinander abhängig, in der nomadischen Steinzeitgruppe, und es macht Sinn, auf jene zu hören, die mehr Erfahrung haben. Das ist die einzige Hierarchie, die es gibt.
Aber …
Was ist mit der medizinischen Versorgung? Die ist, zugegeben, sehr beschränkt, aber dafür ist der Lebensstil viel gesünder, kein Weißmehl, kein Zucker, viel Bewegung in der frischen Luft. Und eine große Weisheit, welche Pflanzen heilend wirken.
Was ist mit individueller Gewalt? Innerhalb der Gruppe kennt man sich und braucht sich gegenseitig, also wird die Gewalt eher gering sein. Zwischen Gruppen kann es natürlich eher dazu kommen, aber wie oft bin ich in dieser Massengesellschaft durch Angriffe schon verletzt worden? Der Staat hat mich 105 Tage ungerechtfertigt eingesperrt. Das hätte mir in der Steinzeit nie passieren können.
Was ist mit Tierschutz? Jeder Mensch heute, der einfach nur lebt, beutet ständig die Natur aus und verletzt Tiere und vernichtet Leben, auch wenn er sich für Veganismus entschieden hat, wie der Anbau in der Monokultur, der weite Transport, die Pflanzenschutzmittel. Überhaupt jeder Gegenstand wurde ohne Rücksicht auf Verluste produziert. Ich denke, auch wenn die Nomadengesellschaft Tiere jagt, wird sie deutlich weniger Leid verursachen. Abgesehen davon hat damals niemand Tiere eingesperrt, gefangen gehalten und industrialisiert verstümmelt und getötet. Heute schon, mit Subventionen aus den Steuern auch vegan lebender Menschen finanziert.
Was ist mit der lustigen Technik, dem Computer, dem Flugzeug, den Autos, was ist mit Reisen, Kultur, Musik? Naja, wozu reisen, wenn die wilde Natur überall um mich herum existiert? Musik macht man sich selbst. Also mir ginge da nicht viel ab. Dafür würde mich nicht täglich der Gedanke quälen, dass jährlich allein in Österreich soundsoviele Hektar Natur zubetoniert, soundsoviele Hektar alter Wald völlig zerstört und soundsoviele Millionen Tiere in Tierfabriken gefoltert werden.
Ich bin wohl ein Steinzeitmensch, ich kenne meine Freunde eigentlich durchwegs schon sehr lang. 😉 Die Maniq, die zwar nicht in der Steinzeit aber dafür im Urwald leben haben jedenfalls wohl eine besondere Strategie um Gewalt aus dem Weg zu gehen. Kommt es zu einem größeren Konflikt der sich nicht beilegen lässt dann verläßt einfach eine der Konflikparteien die Gruppe und schließt sich einer anderen an. Dadurch gibt’s keine körperliche Gewalt. Von lebenslanger Abhängigkeit ist allerdings keine Rede. Wobei allerdings jede Gruppe weiß wo die anderen sich aufhalten und man also einander jederzeit “besuchen” oder wieder “zurückwechseln” kann.
Also ich mag deine Inputs, aber das hier gelesen habend kommt mir gleich der Gedanke: Das finde ich undifferenziert und Schwarz/weiss Malerei.
Das soll jetzt kein Angriff sein, weil ich weiss wie ausdifferenziert du denkst, aber bei diesem Thema bist Du auf gut vs. schlecht früher vs Heute Natur vs. Stadt und Gesetz vs. Gesetzlosigkeit.
So etwas begegnet mir sonst eher bei die oiden Leut – früher wars fü bessa..
Eine Steinzeit ist nicht erfahrbar mehr für uns und existiert also nur als eine Vorstellung in unseren Köpfen. Die Erfahrungen die Du beschreibst sind aber persönliche Erlebnisse und Wahrnehmungen, Naturerfahrungen, Einstellungen…
Da ist etwas vermischt oder? Sollte der Artikel dann eher heissen…Warum ich gern in der Natur bin?
Ich finde es schön, dass Du so über persönliche Vorlieben in deinem Blog schreibst und welche Seiten Du dort entdeckst und erfahrbar machst für dich. Das ist sicher etwas das mehrere Inspiriert und das du beschreibst, was dich alles stört an deinem Umfeld ist auch interessant.
Wie hat denn dein Kollege darauf reagiert?
@Gonzessa:
Sie könnten sich fragen, wie lange Sie Ihre FreundInnen kennen, und wie lange Sie mit Ihren SexualpartnerInnen zusammenleben. Sind es Jahre oder Jahrzehnte? Welchen Anteil Ihres Lebens erreicht das? In der Steinzeit kennt man die eigene Gruppe das gesamte Leben lang, vielleicht gibt es einen einmaligen Gruppenwechsel, um Inzucht zu vermeiden. Meine Erfahrung ist, dass man in der heutigen Massengesellschaft sehr rasch sämtliche FreundInnen auswechselt. Rasch heißt spätestens alle paar Jahre praktisch vollständig. Meine Erfahrung ist, dass man in der heutigen Massengesellschaft sehr schnell sagt, der- oder diejenige geht mir auf die Nerven, und man verliert sich. Es gibt keinen Grund, sich zu bemühen, weil man so viel Auswahl für Neue hat. Und da beginnt der Teufelskreis: man ist genau deshalb einsam, weil man den tiefen Kontakt verliert, den man nur mit Menschen hat, mit denen man einen wesentlichen Teil des Lebens geteilt hat. Bei sehr vielen rein oberflächlichen Beziehungen bleibt man in Wirklichkeit einsam, auch wenn sich das nach viel Spaß und einer lustigen Zeit anhört. In Wahrheit hat man praktisch keine FreundInnen, weil kaum hat man ein echtes Problem, kaum ist man nicht mehr oberflächlich lustig, wird man selbst auch fallengelassen und die moderne Spaßgesellschaft zieht weiter zu jenen Menschen, die keine Probleme haben und damit alle “nur runterziehen”.
Martin Balluch, wer nur oberflächliche Freundschaften hat und seinen Freundeskreis alle paar Jahre komplett austauscht weil Konflikte zu lästig sind ist ein Soziopath. Solche Leute gibt es natürlich, aber das ist eine Minderheit.
Wie schauten denn die tiefen Freundschaften in der Steinzeit aus? Was wissen wir darüber? Welche tiefsinnigen Gespräche hat man damals mit seinen Freunden geführt, von denen man wie Sie sagen abhängig war um zu Überleben? Warum soll ein Abhängigkeitsverhältnis besser für die Freundschaft sein? Und waren Partnerschaften in der Steinzeit stabiler als heute? Schwärmen nicht die Paleofreaks gerade von der damaligen Polygamie und Promiskuität?
Da sieht man wie unterschiedlich Menschen die Welt wahrnehmen. Noch nie ist mir irgendwann im Leben aufgefallen dass die Menschen austauschbar wären und man sich keinen Konflikten stellen muss weil man schnell neue Sozialpartner findet. Würde das auch nur irgendwie den Tatsachen entsprechen, warum wäre man denn dann jemals einsam? Wer an jeder Ecke neue Freunde findet und sich nicht lang mit anderen rum ärgern muss, der soll einsam und unglücklich sein? Völlig unlogische Behauptung.
Man muss ja nicht gleich in die Steinzeit zurück, auch wenn ich persönlich eine solche Welt auch eher reizvoll fände (bin gerade in Norwegen unterwegs). Aber auch moderne Massengesellschaften lassen sich, davon bin ich überzeugt, ohne Kapitalismus, ohne Hierarchien, ohne Wachstum etc. organisieren. Die Spanische Revolution 1936 war davon ja ein eindrucksvoller Vorgeschmack. Viele Interessante Texte dazu gibt es auf http://anarchismus.at
so ein toller text! <3
Es würde für den Anfang schon genügen, wenn jeder / jede für sich kleine Schritte zurück machen würde, beginnend mit Kleinigkeiten des Alltags, die nicht besonders “weh tun”. Aber vermutlich ist hierfür eine ähnliche Erkenntnis erforderlich, wie sie auch für den Verzicht auf tierliche Produkte notwendig ist, und die damit einhergehende Änderung selbstverständlicher Gewohnheiten.
Das ist sicherlich keine schlechte Maßnahme. Nur, werden wir den Kapitalismus nicht überwinden, indem wir unser Konsumverhalten verändern. Fakt ist, dass unser Wirtschafssystem Wachstum benötigt und wir sowohl Probleme benkommen, wenn “wir” dieses Wachstum nicht auf die Kette kriegen bzw. behindern, als auch, wenn wir dieses Wachstum einfach weiter laufen lassen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir die Lösung in einem neuen Wirtschaftssystem suchen müssen. Schaut Euch mal bei Anarchisten um, was die in den letzten 2 Jahrhunderten so für Theorien dazu erarbeitet haben. Die Lösung ist sicher nicht in einem konrollierten Kapitalismus oder einer staatlich verordneten Alternative zu finden. Anarchie ist eine Welt ohne Hierarchien, ohne Herrschaft mit einer dezentralen, bedürfnisorientierten Wirtschaftsform.
Mein Vorschlag: Lieber lesen, bilden und sich zusammentun, sich organisieren. Es gibt ja gerade nicht so viele Menschen da draußen, deren Fragen tief genug schürfen, aber es sind dennoch viele Tausende mit Hunderten von Gruppen, Projekten. Weltweit. Lasst uns zusammen kommen, anstatt alleine daheim einfach nur den Kühlschrank abzuschaffen und Containern zu gehen. Das ist alles okay, aber den Kapitalismus zu überwinden ist ein Kraftakt, den wir nur gemeinsam meistern können. Wenn überhaupt. Und ohne hierarchische Strukturen, ohne NGOs, ohne Parteien. Lieber sich jeden Sonntag um 11:00 im Park der nächsten Stadt treffen und Pläne schnieden, Texte austauschen, Projekte planen und los legen. Wie können wir unsere Wirtschaft wieder in den Griff kriegen, sie wieder selbst in die Hand kriegen und dieses Monster stoppen, das uns ja bisher noch ziemlich prvillegiert zuschauen lässt, wie andere verrecken und sich zugrunde schuften müssen, zuschauen lässt, wie es die Ökosysteme Stück für Stück vernichtet.