16. November 2024

Wildnis Teil 2: Die Natur ist nicht so grausam

Am bekanntesten ist vermutlich die Betonung des angeblichen Schreckens des Naturzustandes in Thomas Hobbes‘ „Behemoth“, in dem der Kampf alle gegen alle dargestellt wird und nur durch eine staatliche Zivilisation überwunden werden kann. Vom „survival of the fittest“ und „nature red in tooth and claw“ schreibt auch Richard Dawkins in seinem Buch „The Selfish Gene“. Und Immanuel Kant sieht sogar eine moralische Verpflichtung des Menschen darin, sich von der Natur loszusagen und staatlich zu organisieren, um die Freiheit erst zu ermöglichen. Die Natur sei also ein ständiger Kampf ums Überleben, grausam, brutal, kurzlebig. Auch die Giordano Bruno Stiftung spricht davon, wie grauenhaft es in der Natur zuginge, weshalb u.U. sogar angedacht werden müsste, zivilisatorisch einzugreifen. Heute merken wir diese Einstellung u.a. daran, dass Nutztiere in Tierfabriken weggesperrt und Haustiere, wie Hunde, aus immer größeren Bereichen der Gesellschaft verdrängt werden. Das bürgerliche Bedürfnis nach Sauberkeit umfasst eine Ablehnung von Tieren, eine Abgrenzung der Zivilisation von der Natur.

Einerseits dient das ganz banal der Höherwertung des Menschen. Dieser schaffe erst moralische Werte, bei Tieren sei der Aggressionstrieb vorherrschend. Die Zivilisation bringe ihnen den Frieden, der wilde Hund müsse durch Leine und Beißkorb gezähmt werden. Gerechtfertigt sei dadurch die Umwandlung der Wildnis in ein Kulturland, die Wälder werden zu Parks. Müsste man da nicht zusammenräumen, fragte mich kürzlich eine Bekannte angesichts von viel Totholz am Boden eines Waldes. Die Fichtenmonokultur von gleichaltrigen Bäumen in Reih und Glied, gerade geformt und ohne gebrochene Stämme, ist das bürgerliche Ideal des Waldes, die menschliche Form von Natur. Und da es in der Wildnis sowieso so brutal zugehe, wäre auch die massenhafte Tötung von Nutztieren gerechtfertigt. Eine seltsame Zwitterstellung zwischen anständiger Zivilisation und „natürlichem Verhalten“, wenn es um den eigenen Vorteil geht und die Brutalität nicht einen selbst betrifft.

Mein Erlebnis in der Natur ist ganz anders. Von den unzähligen Tagen, die ich draußen verbracht habe, kann ich jene Vorfälle, in denen ich Gewalt und Leid sah, an den Fingern einer Hand abzählen. Wie oft beobachtete ich Gemsenherden friedlich grasen, Steinbockkinder fröhlich spielen, Bärenfamilien durchs Unterholz streifen, oder Füchse in der Sonne liegen, Dachse im Boden wühlen und Raben durch die Luft rauschen. Keine Gewalt, sondern schiere Lebensfreude, soziale Beziehungen, Vertrauen, Kooperation. Die tägliche Aktivität der Wildtiere wirkt für sie befriedigend, symbiotisch und partnerschaftlich. Das Sozialleben ist fast ausschließlich friedlich, die Kämpfe zwischen Steinböcken oder Hirschen sind ritualisiert und haben in meiner Erfahrung immer ohne Verletzungen geendet.

Jonathan Balcombe geht in seinem lesenswerten Buch „Second Nature“ auf diese Aspekte ein. Er meint, die Darstellung der Gewalt in der Natur sei in Dokumentationen total übertrieben, man habe sich auf blutrünstige Szenen fokussiert, weil diese mehr Aufmerksamkeit erregen. In Wirklichkeit aber ist die Anzahl der Raubtiere in Ökosystemen meistens nur im Prozentbereich derjenigen ihrer potenziellen Opfer, sodass solche Szenen im Durchschnitt sehr selten passieren. Und dann trifft es hauptsächlich ganz junge Tiere, oder Kranke bzw. Alte. Fitte Erwachsene könnten sich sicher fühlen und sind ihren RaubtiergegnerInnen generell überlegen. Viele Tiere würden in der Natur sehr alt werden, so z.B. gebe es Eisbären mit einem Alter von 32 Jahren und Narrwale mit 115.

Sozial lebende Arten würden immer wenige Kinder bekommen, sich aber um diese intensiv kümmern. Und oft wurde beobachtet, dass kranke und behinderte Tiere überleben können, weil ihre Familien und Gruppen ihnen helfen. Die Populationskontrolle geschehe durch mangelnde Fruchtbarkeit bei geringerem Nahrungsangebot, oder durch eine Re-Absorption des Fötus im Bauch der Mutter. Und Parasiten haben sich i.A. evolutionär zu einem symbiotischen Zusammenleben mit ihrem Wirtstier entwickelt, weil mit dem Tod ihres Wirtes würden sie ja selber sterben. Aus dem Umstand, dass viele Tiere, wie der Pfau, Extravaganzen entwickeln, könne man ableiten, dass ihnen das Überleben normalerweise leicht fällt. Die Tiere in der Wildnis stünden also nicht ständig im Überlebenskampf sondern hätten viel freie Zeit für Spiel und Sozialleben.

Ich sehe das auch so.

2 Gedanken zu “Wildnis Teil 2: Die Natur ist nicht so grausam

  1. “Mein Erlebnis in der Natur ist ganz anders.”

    Da dann muss es ja stimmen, oder? Diese ideologisch bedingte Realitätsverweigerung ist wahrhaft pathologisch.

    Vielleicht sollte Hr. Balluch einmal die Augen aufmachen. In der Natur und insbesondere im Tierreich gibt es massenhaft “Grausamkeit” (obwohl das eine durch und durch menschliche Kategorie ist).

  2. Sehr interessant und schön geschrieben, ich fühle mich gut aufgehoben!
    Eine ähnlich interessante Geschichte:
    Ich hab eine Doku über die Galapagosinseln gesehen, zwar etwas exotischer als ihre Ausflüge, aber dort wäre wohl dieser “Frieden” in der Natur am natürlichsten, denn es gibt dort so gut wie keine natürlichen Feinde.

    Die Tiere zeigen dort ein ganz anderes Verhalten als wir erwarten würden. Sie laufen nicht von den Menschen weg, weil sie keine Bedrohung sehen und auch sonst keine Bedrohung kennen, außer durch Artgenossen vielleicht. Robben liegen friedlich am Strand und schlafen, Kinder spielen daneben und streicheln sie(?! hab ich vergessen obs so war), Vögel essen einem aus der Hand oder landen gleich neben einen, und überhaupt sonst ein sehr friedliches und artenprächtiges Gebiet dort. Es gibt keine Predatoren oder andere Feinde, bis auf die zunahme der Besiedelung der Inseln durch Menschen.
    Natürlich hat der Mensch, sobald er die Inseln entdeckt hatte, gleich mal fast eine Schildkrötenart fast ausgerotten, weil es auf der Schiffsroute als Proviant gedient hat, und darüber hinaus auch Ratten und Hunde eingeschleppt – und damit Krankheiten auf die Insel gebracht, gegen welche sich die Ur-Bewohner nicht zu schützen wussten.
    Jetzt werden die Inseln genau durch diese Zutraulichkeit der Tiere für Touristen immer beliebter und bekannter, und so muss nun die Regierung das Ganze irgendwie regulieren.
    Naja, mal so nebenbei erwähnt 🙂

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