22. November 2024

Wildnis Teil 3: Mein Coming out

Vor genau 6 Jahren saß ich mit Banker Helmut Elsner in einer Zelle im Gefängnis. Es war ihm sehr wichtig, ständig klassische Musik und vor allem Opernarien zu hören. Ich ließ ihn gewähren. Als ich einmal in 105 Tagen 3 Bücher aus der Gefängnisbibliothek bekam, fragte er mich, worum es darin gehe. Eines handelte davon, dass ein Pärchen die Winternacht über dem 80. Grad nördlicher Länge im Franz-Josefs Land verbracht hatte. Niemals würde er das tun wollen, sagte er, da bleibe er lieber für immer hier im Gefängnis. Seltsam, meinte ich, da würde ich viel lieber dort sein, als frei in einer Stadt. Das Geheul wilder Wölfe würde mich viel mehr berühren, als jede Opernarie jemals könnte. Das wollte er mir gar nicht glauben.

Doch, ich gestehe es: ich mache mir nichts aus Musik. Wenn ich nie wieder Musik hören könnte, aber dafür das Maunzen eines männlichen Luchses in der Winternacht, das Krachen der Hörner streitender Steinböcke im Hochgebirge und das Singen der Vögel um 4 Uhr früh in einem Urwald, so würde ich sofort tauschen.

Ich gestehe, ich mache mir nicht viel aus Kunst, Malerei, Theater oder Filmen. Viel lieber sehe ich die majestätische Größe von Felswänden, die unendliche Weite der Arktis, das strukturierte Chaos im wilden Wald und den Vollmond hinter der Silhouette einer uralten Tanne.

Auch aus Büchern mache ich mir nicht viel, da höre ich lieber Geschichten am abendlichen Lagerfeuer. Und wenn ich in unberührter Wildnis leben dürfte, dann würde ich sogar mein Liebstes in der Zivilisation, die Naturwissenschaften und ihre bewegenden Einsichten, dafür aufgeben.

Ja, könnte ich auf der Stelle das Rad 20.000 Jahre zurückdrehen, ich würde es tun. Nicht nur die Wildnis lockt mich dabei, sondern auch das Zusammensein in einer eingeschweißten Gruppe, miteinander durch Dick und Dünn, gemeinsam das Leben meistern.

Aber die Gewalt! Wäre die nicht viel größer gewesen, damals, als heute in der aufgeklärten Zivilisation? Ich glaube nicht. Im Laufe der Zeit habe ich sehr viel Gewalt erleben müssen, einmal wurde ein junger Mann vor meinen Augen ermordet, mehr als ein Dutzend Mal verletzten mich Menschen bei Angriffen schwer. Und vermutlich ist kein Steinzeitmensch, so wie ich, des Nachts von der Polizei überfallen und 105 Tage in ein Kellerloch eingesperrt worden. Einsperren oder versklaven gibt es nicht, wenn alle nur in Kleingruppen zusammen leben, dann gibt es kein Arm und Reich im heutigen Sinn. Und Naturkatastrophen habe ich auch schon einige hinter mir, einmal zerschlug ein Stein in einer Felswand meine Schulter, einmal traf ein Blitz meinen Bruder direkt neben mir in den Arm und einmal fiel ich in eine Gletscherspalte, brach mir dabei die andere Schulter und benötigte 36 lange Stunden bis ins nächste Spital, um nur ein paar Erlebnisse zu nennen.

Apropos Spital: und was ist mit der medizinischen Versorgung? Ich fürchte da würde ich trotzdem lieber für die Steinzeit optieren, auch wenn die Schulmedizin einige Vorteile bringen mag. Bei einem ständigen Aufenthalt im Freien wäre der Körper sicher widerstandsfähiger und gesünder, auch wenn das Leben letztlich kürzer ausfiele. Aber am meisten beeindruckt mich, wie viele Menschen depressiv sind, hier in der Zivilisation, sich das Leben nehmen oder zumindest längere Phasen von Psychopharmaka abhängig sind und nicht mehr weiter kommen. Diesen Personen, so mein Eindruck, fehlen Wildnis und Urwald, auch wenn ihnen das nicht bewusst ist. Einmal wanderte ich mit einer Gruppe verhaltensauffälliger junger Burschen eine Woche lang durch die Berge und siehe da, sie wurden zu einer konstruktiven Gemeinschaft voller Rücksichtnahme und gegenseitiger Hilfe. Und eine Frau, die unter Bulimie litt, wurde wie von Zauberhand für die Zeit der Wanderung und 3 Wochen danach von ihrer Krankheit geheilt, bis im Betondschungel der Stadt alles wieder zum Alten wechselte.

Nein, für das Gefühl, in einer unendlichen, unberührten Wildnis mit einer Gruppe von Menschen zu leben, die dazu in der Lage sind, würde ich auch die Gefahr medizinischer Notfälle ohne Versorgung, Überfälle mit tödlichen Verletzungen und ein kürzeres Leben in Kauf nehmen. Ich fürchte, das ist die Wahrheit. 10.000 Jahre menschlicher Kulturgeschichte und Zivilisation können mir, alles in allem, gestohlen bleiben.

55 Gedanken zu “Wildnis Teil 3: Mein Coming out

  1. Liebe/r silverbridge;ich würde dich bitten dein Bild von “Steinzeit”kultur zu überprüfen: tausende Stammesgesellschaften leben im Hier und jetzt, sie sind keine Relikte aus vergangenen Zeiten der Menschheit, Bitte lies dir obenstehende Kommentare durch, es sollte daraus klar werden warum das “Bild” das in europäischen Köpfen von Stammesgemeinschaften ist ein derart brutal gezeichnetes ist.
    Betrachte vielleicht als Beispiel die Bemühungen der Papua gegen die indonesische Besatzung WestPapuas oder die Bemühungen indigener Nationen Nordamerikas gegen die Erdöl/gas industrie und stelle dort die Handlungen der involvierten Kulturen gegenüber und in Bezug zur Natur.

  2. Lieber Hugo,
    entschuldige die verspätete Reaktion, ich befinde mich technisch meist auf dem einfachstmöglichen Stand….
    Zu deiner konkreten Frage ein eindeutiges: ich weis es nicht.
    Ich bin mir auch nicht sicher, ob diese Frage überhaupt global zu beantworten ist, oder ob es lokale Unterschiede geben müsste.
    Ich geb dir völlig recht, wir sind Affen. Wir sind Omnivore, wir können uns rein carnivorisch (z.B. bei den Innuit bekannt)und rein herbavorisch ernähren; am meisten im Einklang mit der Natur würd ich persönlich vielleicht am ehesten eine Ernährungsweise ander Omnivore (z.B Schweine) empfinden.
    Ich tu mir insofern schwer die Frage nach dem Töten zu beantworten, da es für mich sehr wichtig geworden ist Leben eben auch als Leben ganzer Ökosysteme oder “Familien”mit hoher Interdependenz zu sehen und nicht unbedingt auf Individuen beschränkt. Ökosysteme sind auf enorm hohem Niveau vernetzt in dem jeder auf den Anderen angewiesen ist.
    In dem Sinne heisst Bäume roden oder Flüsse aufstauen eben auch Tiere töten.
    In diesem Sinne erfüllen aber eben auch die oben erwähnten natürlichen Jäger durch ihr Töten eine überlebensnotwendige Aufgabe.
    Ich denke du siehst mein Dilemma….

    Ich glaube v.A. nicht, daß die Frage nach richtiger Ernährung, oder Leben im Einklang mit der Natur innerhalb dieser unserer Kultur heraus beantwortet werden kann; all unser “Expertenwissen” ist Theorie einer Gesellschaft die sich vor sehr langer Zeit aus dieser Natur verabschiedet hat.
    Wenn es um die Antwort auf die 7Milliardenfrage geht, so glaub ich eben daß sie innerhalb unserer Kultur genausowenig bekannt ist wie es die Frage nach einer praktikablen Alternative zum Absolutismus einst war, aber ich glaube eben nicht, daß das Dilemma unlösbar wäre. Die mögliche Antwort stünde aber erst am Ende eines Lernprozesses.

    Der Grossteil dessen, das die Menschheit produziert sind nicht lebensnotwendige Konsumgüter, die in kürzester Zeit Sondermüll sind.
    Es ist etwas völlig Anderes 7Milliarden zu ernähren als sie mit all dem “lifestyle”, zu versorgen; wenn wir nur unsere Geräte zumindest reparieren statt ersetzen würden hättest du enorm verringerten Energie-Ressourcen-manpower Einsatz bei 90% Müllvermeidung und noch nichteinmal schwerwiegende Eingriffe in Lebensgewohnheiten.
    Es ist hier die Wirtschaftslogik, die das verhindert, und die kann man ändern.
    Ein Beispiel für einen realistischen Ansatz bieten, um die vielleicht am ehesten bekannte Gruppierung zu nennen, die Autonomen Gruppen im Süden Mexicos;
    gelegentlich als Zapatista in den Medien.
    Dort haben sich Gemeinden nach indigenen Mustern neu organisiert, nachdem die Staatsmacht und -verwaltung im Drogenkrieg zusammengebrochen war. Man kann somit die Lebensrealität der Menschen in diesen Gemeinden der Lebensrealität der Mexikaner im neoliberalen Norden des Landes gegenüberstellen. Neben dem enorm viel besseren Auskommen und der höheren Sicherheit in den Gemeinden im Süden hinterlassen diese auch einen enorm verkleinerten Ökologischen Fussabdruck, “töten”(in obigem Sinne) in viel geringerem Masstab.
    Tatsächlich gibt es in Lateinamerika sehr viel mehr autonome Regionen, es gibt indigene Widerstandsgruppen in beiden Amerikas, Australiens, Afrikas, Neuseelands, Polynesiens…
    die sehr viele ganz konkrete und heutige Alternativen aufzeigen wollen.
    Es geht hier nicht ums Klischee des naturverliebeten Indianers, es geht um jahrtausendealte Erfahrungen im Umgang mit dem Ökosystemen der Erde (es ist ganz praktisch so, daß Z.B. das Klimagedächtnis der Innuit weiter zurückreicht als das aller Universitäten, oder das Wissen über Regenwaldpflanzen noch heute bei Indigenen Völkern gesucht wird)
    ..und es geht natürlich sehr um heutige Themen, die derzeit grösste Indigenenbewegung “Idle No More” hat sich in Kanada v.A. an der Frackingdebatte entzündet, die enorme Nachteile im Wasser/Ummweltschutz und den Lebensbedingungen der Völker bedeutet, die in den Gebieten wohnen, in denen gefrackt wird, oder Teersand abgebaut.
    Die Themen dieser Gruppierungen sind zwar zumindest in den USA/Kanada ein “Randgebiet” der Medien, Europa erreichen sie meist gar nicht.
    Auf all die realistischen Gegenvorschläge einzugehen die von dort kommen würde den Rahmen hier endgültig sprengen.

  3. Ich kann vieles aus dem Text nachvollziehen, dennoch lebe ich gerne in einer aufgeklärten Gesellschaft.
    Ich liebe die Natur und verbringe gerne meine Zeit mit meinen tierischen und menschlichen Freunden und ich mag die Annehmlichkeiten der modernen technischen Geräte.
    Ich lebe seit 3 Jahren vegan und fühle mich wohl bei dem Gedanken meinen Beitrag für eine ökologisch ausgewogenes Leben zu leisten.
    Das ist leicht wenn man im Winter nicht frieren muss weil die Heizung einfach eingeschaltet werden kann und weil es heute eine gute Auswahl an veganen Produkten gibt. Es ist nicht nötig zu jagen oder sich darauf zu verlassen dass irgendwer für etwas zu essen oder zum kleiden sorgt.
    Aus der Sicht eines modernen Mitteleuropäers scheint mir der Wunsch nach einer Authentizität die alle menschlichen Errungenschaften ausblendet befremdlich. Irgendwelchen Medizinmännern oder religiösen Führern ausgeliefert zu sein hat wenig von der Romantik die man sich vielleicht vorstellen wollte. Die Menschen früher waren keine eingeschworene Gemeinschaft von fünf Freunden, sondern eine straff geführte Einheit die funktionieren musste um zu überleben. Tödliche Rituale, eigenartige mystische Zeremonien muten eher nach Hexenverbrennung als nach einem Survival-Abenteuer. Selbstverständlich gab es auch Neid, Missgunst, Verleumdung, Verrat, Diebstahl, Entführungen, Sklaverei und hinterlistigen Meuchelmord und anders als heute suchte man damals eine Gerichtsverhandlung vergeblich.

    Es mag für manche erstrebenswerter erscheinen tot zu sein als sozial und finanziell zerstört zu werden, aber im Gegensatz zu den Zeiten der Urmenschen erreicht die Einstellung, die Erfahrung dieser Menschen und der Mut auch andere Personen die daraus eine (geistige) Bewegung und Entwicklung machen – früher war man einfach nur tot und das ohne jede Relevanz, ohne jeglicher Wirkung.
    Das idealisierte Bild spiegelt leider nicht die Realität der Steinzeitkulturen wieder, da lebe ich lieber in der heutigen Zeit und habe die persönliche Freiheit mich für meinen Lebensstil zu entscheiden – etwas das in frühen Kulturen nicht einmal annähernd möglich war. Wer allein war war zum Tode verurteilt, wer in einer Gemeinschaft lebte war ein Teil der funktionieren musste – wie man das auch bei den wenigen naturnahen Stämmen sieht die sich heute für so ein Leben entschieden haben.

    Einen Beitrag für eine Zukunft zu geben die den Planten lebenswert erhält, die Lebewesen schützt und nicht zB zwischen Nutztier und Haustier unterscheidet muss das Ziel sein und dafür muss man sich einsetzen HEUTE, dem zu entfliehen ist Feigheit. Ich ziehe es vor durch meinen Lebenstil zu zeigen dass es wichtig ist HEUTE, auch wenn ich niemanden dazu bringe selbst vegan zu werden erbringt meine Einstellung in meinem Umfeld (im Büro, beim Sport und bei Freunden und Verwandten) eine Beschäftigung und eine Reaktion. Es wird darüber gewitzelt oder auch die Stirn gerunzelt – es regt zum nachdenken an. Selbst wenn es nicht direkt zum Erfolg führt hinterlässt die Einstellung und der Gedanke Spuren und der ist, davon bin ich überzeugt, nachhaltig.
    Ich fahre mit dem Rad aber auch mit dem KfZ, ich lebe Mobilität in der Art wie es nötig ist. So sehr ich wollte aber 1 Tonne Futter werde ich niemals mit einem Rad transportieren können.
    Es sind die Entscheidungen die man trifft die die persönlichen Spuren hinterlassen und ich werde einst lieber im Gedanken sterben alles unternommen zu haben für eine ökologisch sinnvolle Zukunft gelebt zu haben und Menschen dazu ermuntert zu haben als dafür dem Ganzen entfliehen zu wollen.
    Wir leben im HEUTE und es ist die Pflicht die Welt an die nächsten Generationen weiterzugeben und das am Besten nicht mit der Auflage noch mehr Profit daraus zu pressen, sondern das Leben und Umwelt zu schützen und die Begeisterung zu vermitteln dass der Schutz etwas Wert und etwas sehr wertvolles ist.
    Danke.

  4. Hallo Hugo!
    Ich sehe diesen Kommentar leider erst jetzt, obwohl ich immer die Seite “refresht” habe.
    Ich bin leider gerade am Weg in die Arbeit, melde mich gegen Abend nochmal!

  5. Hi Micky,
    Danke für deinen Beitrag. Aber lass uns doch konkret werden. Wie hoch auf der Foodchain können 7 Milliarden Menschen essen ohne das Spezies Massensterben zu beschleunigen sondern zu revidieren? Mit anderen Worten, ohne dass wir uns selber umbringen?
    .
    Das habe ich mit Affe vs Katze vs Wolf gemeint, wie essen wir? Wir sind biologisch Affen, auch wenn wir die eine Rasse Schimpansen und die anderen Hominide nennen. Wir können aber wie omnivore Wölfe oder carnivore Katzen essen durch unsere Technologien. Wie und warum wir essen und was wir bereit sind dafür zu zerstören und töten ist die Frage. Falls du meinst wir Menschen sollten Tiere und Fische töten und essen, wie viel davon? Und wie sollen wir dies im Einklang mit der Natur tun mit 7 Milliarden? Vor 2000 Jahre konnte man einfach nur über diese Themen philosophieren ohne konkret werden zu müssen, bei uns heute tickt die Uhr um einiges schneller.

    Der Veganismus ist bis jetzt der einzige Ansatz den ich kenne, der praktisch im Alltag gelebt werden kann und Massensterben revidieren kann, ohne dass sich die menschliche Population drastisch verringern muss. Kannst du mir deinen Ansatz im realistischen Alltag schildern?

    Cheers und LG

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