Politik ist immer Kompromiss. Will man realpolitisch etwas weiterbringen, muss man rasch die Gefilde der idealistischen Ethik verlassen und in den Schlamm der Pragmatik absteigen. Es wird wohl keinen realpolitischen Fortschritt und keinen Kompromiss geben, ohne die eigenen Ideale in Mitleidenschaft zu ziehen.
Aber das heißt natürlich nicht, dass man auf jeden Kompromiss eingehen muss. Vielmehr gilt es abzuwägen, ob der Kompromiss einen echten, realen Fortschritt bietet und ob unter den gegebenen Bedingungen mehr drinnen gewesen wäre. Ein Kompromiss ist schließlich ein neues, wenn auch dynamisches Gleichgewicht in der Gesellschaft, hat ein Kompromiss nicht eine gewisse Lebenszeit, dann ist er zu instabil und kollabiert, und jeder weitere Fortschritt wird in Frage gestellt.
Betrachten wir unter diesen Bedingungen den neu gefundenen Kompromiss in der Kastenstandhaltung von Mutterschweinen. Unser Gegner in diesem Konflikt war die Schweineindustrie, deren Interesse es ist, die Schweine maximal auszubeuten und ihnen möglichst wenig zu bieten, das etwas kostet aber keinen zusätzlichen Profit bringt. Die Schweineindustrie ist sehr mächtig in Österreich. Zwei Drittel des hierzulande produzierten Fleisches stammt von Schweinen, der Umsatz ist gewaltig, der Zugang zur Politik durch die ÖVP als Regierungspartei ist direkt und sehr weitreichend. Auf unserer Seite steht zwar eine große Mehrheit in Österreich, aber durch den Umstand, dass wir in einer repräsentativen statt direkten Demokratie leben, ist es für eine direkte politische Einflussnahme notwendig, dass die entsprechende Forderung im Wahlvolk eine ziemlich hohe Priorität genießt. Um den Tierschutz im Kastenstandkonflikt zu unterstützen muss man also nicht nur gegen Kastenstände sein – das sind 80% der Menschen sowieso! – sondern auch genügend motiviert, andere Themen dafür zumindest zeitweise links liegen zu lassen und sich prioritär zu engagieren. Das ist schon ziemlich viel verlangt und daher muss ich an dieser Stelle deutlich sagen, dass es mich sehr freut, ja dass ich nachgerade stolz bin, dass sich so viele Menschen in unserer Kampagne so intensiv engagiert haben, und sei es „nur“ durch das Abschicken einer Protestpostkarte. 10.000e solcher Postkarten haben die zuständigen Minister erreicht.
Anfänglich schien die Gegenseite völlig unbeweglich, Landwirtschaftsminister Berlakovich wollte scheints überhaupt nicht Stellung nehmen sondern die Sache aussitzen. Es gelang uns diese Phase zu überwinden und den Minister zu Verhandlungen zu zwingen. Ende Juli war es soweit und die Agrarindustrie bot erstmals an, auf eine Reduktion der Zeit im Kastenstand während der Schwangerschaft einzugehen. Das, allerdings, war uns dezidiert zu wenig. Ein zentrales Problem war und ist die Kastenstandhaltung während der Geburt und der Säugephase der Schweinekinder. Unser Minimalkompromiss setzte jedenfalls eine Änderung der Haltung in dieser Phase voraus.
Es war ein hartes Stück Arbeit, die so elitär und bürgerfern denkende Schweineindustrie, die auch noch von der gesamten Agrarindustrie unterstützt wurde, zu bewegen. Nach Ansicht – und bisheriger Erfahrung! – dieser Personen, werden die Produktionsbedingungen einfach innerhalb ihrer politischen Kreise festgelegt, weder die Öffentlichkeit und schon gar nicht die Tierschutzbewegung sollten am Verhandlungsprozess beteiligt werden. Für diese Betonköpfe war das denkunmöglich. Und deshalb mussten wir das Tempo verschärfen, wir mussten der Schweineindustrie klar machen, dass wir diesen Konflikt so aufblasen und eskalieren werden, dass ein Kompromiss mit uns auch für die mächtige Tierindustrie notwendig wird. Ab Mitte September wurde 2 Mal das Landwirtschaftsministerium blockiert, es folgten mehr als 35 Störaktionen bei öffentlichen Auftritten des Landwirtschaftsministers, bis dieser seine Events zu verheimlichen begann. In Wien, St. Pölten, Linz, Graz, Salzburg und Innsbruck gab es Besetzungen von ÖVP-Gebäuden, Landwirtschaftskammern und Bauernbundbüros. Am 20. Dezember schließlich zeigte sich die Schweineindustrie auch über eine Änderung der Kastenstandhaltung in der Säugephase der Schweinekinder zu verhandeln bereit, allerdings nur mit astronomischen Übergangsfristen.
Das Ergebnis des Kompromisses findet sich auf der Webseite des VGT:
https://vgt.at/presse/news/2011/news20111223h_1.php
Was ist nun davon zu halten? Die Reduktion der Zeit im Kastenstand, wie es die endgültige Form ab 2033 vorsieht, entspricht dem Schweizer Tierschutzgesetz. Die Praxis dort ist weitgehend kastenstandfrei, mehr als die Hälfte der Betriebe benutzt überhaupt keine Kastenstände mehr. Das ist letztendlich auch für Österreich zu erwarten, weil unter diesen Bedingungen diese minimale Zeit im Kastenstand keine Vorteile mehr bietet. Die Vorschriften für 2033 sind also durchaus zufriedenstellend. Bleibt allerdings die ungeheuer lange Übergangsfrist.
Auf der anderen Seite konnte die Übergangsphase für die Einführung des Kastenstandes während der Schwangerschaft auf 2013 vorverlegt werden – leider mit Ausnahme gewisser Betriebe. Dieser Schritt ist auch nicht zu unterschätzen, er betrifft immerhin mehr als die Hälfte der Zeit im Kastenstand.
2033 wurde als Stichdatum gewählt, weil erst 2018 die konkrete Haltungsform für die freie Geburt ausgewählt werden soll und die Betriebe, die bis dahin noch Kastenstände einbauen, ihre Investitionen amortisieren können sollen.
Es bleibt ein Kompromiss mit Bauchweh. Aber ohne jeden Zweifel haben wir durch unsere konfrontative Kampagne gegen den Widerstand der Schweineindustrie diesen Kompromiss erkämpft, ohne unseren Einsatz gäbe es keinerlei Änderung, keinen Änderungsbedarf, keine Zielrichtung und kein Ablaufdatum für Kastenstände. Andererseits darf es nicht zur Norm werden, dass die kleinsten Fortschritte im Tierschutz nur mit Übergangsfristen von mehreren Jahrzehnten erkauft werden können. Wie soll sich in relevanter Zeit da eine drastische Änderung im Umgang mit den Tieren ergeben? Wir können nur darauf hoffen, dass sich der Wertewandel gegenüber Tieren in der Gesellschaft rascher fortsetzt und sowohl die gesetzlichen Fortschritte beschleunigt als auch deren Übergangsfristen herabsetzt. Die tierschutzbewegte Mehrheit im Volk sollte da eine zunehmende Ungeduld zeigen.
Zutiefst erschüttert der Umstand, dass dieser so energie- und zeitaufwendige Konflikt lediglich einen winzigen Teilbereich der Schweinehaltung betrifft, und die Schweinehaltung nur einen Teilbereich der Nutztierhaltung und diese wiederum nur einen kleinen Teilbereich aller Tierschutzproblematiken. Mastschweine müssen weiterhin ohne Stroh auf Vollspaltenböden leben, haben nur 0,7 m² pro 110 kg Schwein an Platz und keine frische Luft und keinen Auslauf. Die Dimension der Tierschutzprobleme ist gewaltig.
Die repräsentative Demokratie bringt es mit sich, dass wir solche Fortschritte nur im Rahmen konfrontativer Kampagnen gegen einflussreiche Kreise erkämpfen können. Aber derartige konfrontative Kampagnen können praktisch nur ein Mal pro Jahr durchgeführt werden, und die Forderungen dieser Kampagnen müssen dabei abgegrenzt und überschaubar bleiben. Kommen wir auf diese Weise im Rahmen eines Menschenlebens überhaupt zu echten Verbesserungen im gesamten Mensch-Tier Verhältnis? Brauchts dafür nicht einen tiefgreifenderen Systemwechsel?
Doch dieser Erfolg in der Kastenstandfrage ist mehr als nur ein Schritt in die richtige Richtung. Er hat sowohl den Betonköpfen der Tierindustrie als auch der Öffentlichkeit das Gesamtproblem vor Augen geführt und alle für die Krise der Mensch-Tier Beziehung sensibilisiert. Der Konflikt um das Kastenstandverbot ist gleichzeitig ein Konflikt um eine Neudefinition des Mensch-Tier Verhältnisses, ein Katalysator für den Wertewandel im Tierschutz in der Gesellschaft, und eine große Motivation für alle jene Menschen, denen das immense Tierleid nahegeht und die eine fundamentale Änderung wollen, sich aber persönlich dabei überfordert sehen. Die mächtige Tierindustrie musste unsere Forderungen anerkennen. Die Tore sind geöffnet für weitere Fortschritte und ein generelles Umdenken, sowohl in Österreich als auch in der EU und weltweit.
Gratulalation zu diesem – wenn auch kleinen – Erfolg! Meine Wut ist so groß, wenn ich diese Zeilen lese und diese gewaltige Dimension von Unrecht und Leid und all das scheint so unbewältigbar und doch macht jeder auch kleine Schritt Sinn und ist notwendig!
Dass “die Tore geöffnet sind für weitere Fortschritte und ein generelles Umdenken, sowohl in Österreich als auch in der EU und weltweit” wäre zu schön um wahr zu sein. Aber was soll´s: Es gibt ohnehin nur einen Weg: aufstehen und wieder weiter machen.
@Goiken + Administrator
Ich verstehe das Problem nicht. Unser Infostand wurde dank der Aktionen von “ich-will-gegen-Kastenstände-unterschreiben-Menschen” sehr gut besucht… und jede(r) nahm ein veganes Kekserlbackheft mit, wo ist also das Problem?
Wobei man natürlich über Kampagnen diskutieren können sollte – aber das liest sich auch gerade nicht nach konstruktiver Diskussion 😉
Die Kampagne zum Thema Kastenstand war schon eine recht massiv und leidenschaftlich geführte und hat letztendlich auch zu einer Reaktion und zu einem Ergebnis geführt, wenn auch zu einem m.M.n. eher bescheidenem – was sicher nicht an der Kampagne selbst gelegen ist, sondern am Ausschließen der Tierschutzvetreter von den Verhandlungen. Dabei hat sich aber gezeigt, mit welchem verhältnismäßig großen Aufwand seitens des Tierschutzes vorgegangen werden muss um gegen die Blockade der ÖVP einen kleinen Erfolg landen zu können. Bei den langen Übergangszeiten besteht außerdem die Gefahr des Vergessen-werdens und das dann irgendwann einmal auch die erreichten Verbesserungen wieder gekippt werden könnten. Vielleicht arbeitet die ÖVP bereits an der nächsten Verschärfung des Strafgesetzes um noch leichteres Spiel zu haben(?). Wie auch immer: Ohren steif halten und nicht unterkriegen lassen, denn diese Perversionen in der Schweinehaltung (und auch sonst in der Tierhaltung) brauchen ein Ablaufdatum.
Die Übergangszeit ist lang. Derzeit. Eine Botschaft, die mit dem Kompromiss verknüpft ist: so, wie Schweinehaltung derzeit praktiziert wird, ist es falsch und es muss geändert werden. Leider schaffen wir in Österreich nicht, was andere Länder schon lange erreicht haben. Wir sind eben unfähig, den Missstand zu beseitigen. Dennoch ist die derzeitige Kastenstandhaltung ein Missstand und das wird auch von allen so gesehen, sonst gäbe es nicht den Plan, den Missstand zu beseitigen. Wer weiß, wenn es erst einmal in ganz-Österreich eingesickert ist, dass die Schweinehaltung bei uns ein geduldetes Verbrechen ist, dann ergibt sich vielleicht in 2-3 Jahren die Möglichkeit, die Übergangszeit zu kürzen. Vielleicht ist Österreich dann schon “weiter”.
@goiken:
Ich sag Dir was ich glaube. Hätten dieselben AktivistInnen dieselbe Zeit statt mit Kastenstandaktionen mit Infoständen für Veganismus und vegan outreach verbracht, wäre absolut überhaupt nichts Merkbares geschehen.
Ich halte diesen Kompromiss für einen großen Erfolg. In welchem anderen politischen Bereich gibt es so viele Leute, die sich so engagieren wie ihr und die auch wirklich überhaupt etwas weiterbringen? Nirgends! Ich würde mir so aktive Gruppen wie den VGT auch in der MigrantInnenfrage und im Umweltschutz wünschen.
Deshalb: Meine Hochachtung. Ihr solltet entgegen der Unkenrufe dieses Ergebnis ausgiebig feiern! Es ist ein großer Erfolg!
20 Jahre sind genug Zeit, um noch 100x umzufallen.
Ich glaub denen kein Wort. Die haben Zuckerl verteilt, damit sie zumindestens den Anschein von Demokratie aufrecht erhalten können; und ich schätze, dass sie diese Zuckerl wieder wegnehmen werden.
Wer weiß ob in 20 Jahren Österreich überhaupt noch in der jetzigen Form existieren wird.
Mal Hand aufs Herz…
Glaubst du ernsthaft, dass wir hier einen „gewaltige[n] Fortschritt in die richtige Richtung“ vor uns haben auf dem Weg dahin „Tierfabriken endlich ab[zu]schaffen“?
Sind die Änderungen nicht viel plausibler so zu erklären, dass die sie der wirtschaftliche Effizienz der Industrie zu Gute kommen und in der öffentlichen Wahrnehmung dazu führen, dass Tierproduktion mehr Akzeptanz findet?
Wie viele zusätzliche Veganer_innen, glaubst du, hätten wir generieren können, wenn die Ressourcen der Kastenstandkampagne in kreative gewaltfreie vegane Aufklärung investiert worden wären?
Wir bekommen paradigmatische Veränderungen in den Gesetzen und den industriellen Praxen nicht ohne einen paradigmatischen Wechsel in den Wertesystemen derjenigen, die die Nachfrage für diese wirtschaftlichen Praxen durch ihr tägliches Konsumverhalten erzeugen. Fangen wir (endlich) an, daran zu arbeiten!