Ich liebe den Schnee. Bei uns in den Bergen liegt er noch. Und zwar wirklich viel. Teilweise mehrere Meter, schattseitig. Ich trauere dem Schnee nach, wenn er schmilzt, weil ich ständig fürchte, dass der Klimawandel vielleicht erneuten Schneefall im nächsten Jahr verhindern wird. So habe ich mich in den Schnee gelegt und die Morgenstimmung der Berge auf mich wirken lassen.
Der Schnee kühlt die Luft merklich. Es ist 15 Grad kälter als in Wien. Der Schnee riecht auch frisch, obwohl er schon so lange hier liegt. Aber er befeuchtet die Luft und das erzeugt dieses Flair. Unter den hohen Fichten atme ich tief ein. Ich spüre, wie der Sauerstoff der tausenden Fichtennadeln meine Lungen füllt. Diese Nadeln setzen Sonnenlicht in Energie um, und saugen dabei CO2 auf und stoßen Sauerstoff aus. Lauter kleine Sauerstoffquellen! Zusätzlich filtern sie den Feinstaub aus der Luft.
Mir tun die Menschen da unten in ihren Städten leid, die keine so herrliche Luft zum Atmen haben.
Im Winter herrscht immer eine viel größere Stille im Wald, als im Sommer. Kein Summen von Insekten, kaum Vogelgezwitscher. Doch heute ist es anders. Da dominiert ein lautes Geschnatter oben in den Baumkronen, ein Chor hunderter Vogelstimmen, die sich gegenseitig zu übertönen versuchen. Plötzlich fliegt ein Schwarm auf. Kleine Vögel zischen im rasanten Flug zwischen den Bäumen durch, wendig weichen sie den Ästen aus, im halsbrecherischen Tempo. Bei jeder ihrer Kurven blitzt kurz die weiße Unterseite ihrer Schwanzfedern auf. Kaum sitzt der Schwarm wieder, sind die einzelnen Vögel praktisch nicht zu sehen, so gut getarnt verschmilzt ihr graubraunes Federkleid mit dem Hintergrund.
Hunderte Vögel fliegen über mich hinweg. Immer Neue scheinen anzukommen, sich in große Gruppen zu verbinden, um dann gemeinsam aufzufliegen und wieder zu landen. Es werden immer mehr. Eine große Unruhe herrscht hier. Immer wilderes Geschrei.
Es sind Bergfinken, die sich da sammeln. Sie haben den Winter bei uns verbracht. Jetzt wird ihnen langsam zu warm. Sie spüren den drang, wieder gen Norden zu ziehen. In die Taiga und Tundra von Skandinavien, wo sie brüten wollen. Ich kann die Unruhe verstehen, auch ich möchte dem Winter folgen.
In einem gewaltigen Crescendo erhebt sich zuletzt der gesamte Schwarm von vermutlich vielen tausend Tieren. Seit Tagen sind immer mehr Bergfinken eingetroffen, jetzt wird es Zeit, die große Reise anzutreten. Ich setze mich auf und verfolge ihre schier unglaublichen Figuren am Himmel, die sie in Schwarmformation aufs Firmament zeichnen. Und dann schließlich schrauben sie sich höher und höher. Und beginnen ihren langen Zug nach Norden.
Ich bleibe im feuchtnassen, schmelzenden Schnee zurück und blicke ihnen sehnsüchtig nach. Fliegen müsste man können. Eine gute Reise wünsche ich Euch. Grüßt mir den Hohen Norden, wo ich so viele Sommer verbracht habe. Vielleicht komme ich später nach.