Mein Hundefreund Kuksi und ich waren immer wieder in den rumänischen Südkarpaten zum Wandern. Von Wien aus sind sie etwa gleich weit entfernt wie Innsbruck und das ist ja nicht die Welt. Das Besondere an den Südkarpaten ist nicht, dass dort der historische Drakula gehaust hat, sondern, dass es dort viele Bären und Wölfe gibt, und man überall zelten und ein Lagerfeuer anzünden darf. Die Präsenz dieser großen Beutegreifer vermittelt mir den Eindruck, dass der Wald dort komplett ist. Und wild. Nicht so gezähmt und harmlos, wie bei uns. Obwohl, eine echte Wildnis kann man auch die Südkarpaten nicht nennen. Überall gibt es Forststraßen, überall wohnen Menschen, überall finden sich Almen voller sogenannter Nutztiere und sehr häufig trifft man auf Wanderwege und touristisch genutzte Berghütten.
Bei unseren Wanderungen in den Südkarpaten hatten Kuksi und ich immer wieder Begegnungen mit Bären. Aber Wölfe sind uns keine untergekommen. Doch waren wir bisher nur im Sommer unterwegs gewesen und so beschlossen wir eines Tages, im Winter wieder zu kommen. Da müssen die Berge viel menschenleerer sein, weil ja niemand auf der Alm ist, die Bären schlafen und die Wölfe ihre Spuren im Schnee hinterlassen. Wenn es sie dort wirklich gibt, dann müssten sie im Winter aufzuspüren sein.
Gesagt, getan. Im Februar machten wir uns auf den Weg, kamen schließlich an Drakulas Burg vorbei, nein, nicht dem touristischen Bran, sondern an der Zitadelle Poenari im Fagaras Gebirge, wo er tatsächlich gelebt hat. Diese Burg ist viel düsterer und entlegener, und passt viel besser zur Drakula-Geschichte. Kuksi und ich fuhren mit dem Auto, bis uns der tiefe Schnee stoppte. Von dort ging es für mich mit Tourenschi weiter, auf meinem Rücken ein riesiger Rucksack mit unserem Essen, einem Kocher, Wechselkleidung, Schlafsack und Zelt. Selbstredend keine Waffen. Wir zogen unsere Spur durch einen schütteren Wald bergauf bis es dunkel wurde. Dort schlüpften wir müde nach der langen Anreise ins Zelt zum Schlafen.
Am nächsten Tag in der Früh traute ich meinen Augen kaum. Eine frische Bärenspur führte durch den Schnee keine 10 m an unserem Zelt vorbei in den Wald hinunter. Und ich hatte gedacht, die Bären schlafen im Februar bei Schneelage! Bald hatten wir unsere 7 Sachen gepackt und konnten weitergehen. Und keine 100 m weiter stießen wir tatsächlich auf Wolfsspuren. Sie sahen aus wie die Abdrücke eines Hundes, wenn auch deutlich größer als jene von Kuksi. Nur waren nirgends Menschenspuren zu sehen. Es musste sich also um Wölfe handeln.
Kuksi und ich folgten der Spur. Sie zog hier steil den Wald hinauf. Man konnte gar nicht sagen, wieviele Wölfe es waren, weil sie traten exakt in die Fußspur des vor ihnen gehenden Wolfes. Sehr vernünftig, auf diese Weise Energie zu sparen. Wer beim winterlichen Bergsteigen schon einmal Spurarbeit im Tiefschnee geleistet hat, weiß, wie mühsam das ist. Die Wolfsspur machte ca. 20 m breite Serpentinen. Also kennen sie auch diese Taktik, um sich nicht zu sehr anzustrengen. Endlich kamen wir oben auf eine Almwiese. Und da teilten sich die Wolfsspuren auf! Man konnte klar erkennen, wie sie da oben, auf dem Schnee mit Harschdeckel, in den sie nicht einbrachen, fröhlich in weiten Sätzen gelaufen und gesprungen waren. Jetzt konnte ich ihre Anzahl feststellen: 13. Es waren 13 verschiedene Wolfsspuren nebeneinander. Wie alt sie wohl sein mochten?
Wie selbstverständlich folgten Kuksi und ich den Spuren weiter. Es ging über eine offene Fläche in etwa 1000 m Seehöhe einen Kamm entlang, immer wieder durch alten Wald unterbrochen. Hier hatten wir im Sommer eine Bärenmutter mit 2 Kindern getroffen. Die drei hatten sich, kaum wurden sie auf uns aufmerksam, sofort zurück gezogen.
Jetzt trennten sich die Spuren plötzlich. Man konnte sehen, dass die Wölfe sehr schnell gelaufen waren. Hatten sie gejagt? Wir folgten jenen Spuren, die oben am Kamm blieben. Nach einem weiteren Kilometer bogen sie plötzlich scharf ab den Wald steil hinunter. Wir ließen sie nicht aus den Augen. Und tatsächlich trafen wir auf die anderen Wolfsspuren und die wenigen Überreste eines toten Rehs. Das gesamte Areal war von Spuren durchzogen. Hier hatte es einen Kampf gegeben. Auf einer ca. 5 m² großen Fläche war der Schnee blutrot. Übrig gelassen hatten die Wölfe sehr wenig. Da gab es kleine Reste von Innereien, vielleicht die Hälfte der Haut und sonst nichts mehr. Auch der Kopf des Rehs war weg. In der näheren Umgebung fanden wir den Schlafplatz der Wölfe. Etwas weiter hatten sie quasi eine Toilette angelegt mit viel Kot. Ich durchsuchte die Exkremente und fand Rehhaare und Knochenstücke. Eindeutig Wölfe, bei Hunden sieht man derartige Überreste nicht.
Kuksi und ich übernachteten in der Nähe. Ich war total begeistert davon, so nah an diesen Wildtieren zu sein. Angst hatte ich keine Sekunde. Am nächsten Tag folgten wir den Spuren weiter. Jetzt wirkte es so, als ob die Wölfe ziemlich träge gewesen wären. Vielleicht hatten sie hier an ihrem Riss mehrere Tage verbracht? Wir fanden letztlich die Spuren, die von hier wegführten. Es ging erneut den Berg hinauf zum baumlosen Kamm. Die Wölfe schienen hier und da zu schnüffeln, viel zu faulenzen und länger zu liegen.
Das Wetter war an diesem Tag wunderschön sonnig, richtig warm. Kuksi und ich rasteten, genossen die Aussicht, und stellten schließlich unser Zelt auf. Normalerweise ist Kuksi am Abend vor dem Schlafengehen sehr aktiv und streunt durch die Gegend. Diesmal nicht. Roch er die Nähe der Wölfe? Jedenfalls hielt er sich letztlich nur noch im Zelt auf und machte kein Geräusch.
Ich entzündete ein Feuer vor dem Zelt. Der Schnee war hier gut 1 m tief, aber so hart, dass man darauf gehen konnte. Das heiße Feuer fraß sich in den Schnee bis zum Grasboden hinunter. Die Nacht war sehr still, Kuksi bereits im Zelt. Da hörte ich ganz deutlich in der Ferne ein Wolfsrudel heulen. Ich hielt die Luft an vor Begeisterung. Und da, plötzlich antwortete eine andere Wolfsgruppe mit Geheul, deutlich näher im Osten. Und jetzt hub eine dritte Wolfsgruppe ganz in der Nähe im Wald neben uns an, ebenfalls in den Chorus des Wolfsgeheuls einzusteigen. 3 Gruppen von Wölfen heulten sich gegenseitig an! Kaum zu glauben. Wobei die näherste Gruppe kaum 100 m entfernt zu sein schien. Für mich eine wahnsinnige Freude, diesen Tieren so nahe sein zu können.
Am nächsten Tag gingen Kuksi und ich vom Zelt weg, um die Spuren der Wölfe zu finden, die so nahe geheult hatten. Da stießen wir, kaum 50 m von unserem Schlafplatz entfernt, auf ganz frische Wolfsspuren. Das 13 köpfige Rudel hatte uns bemerkt! Sie hatten sich unserem Zelt auf 50 m genähert und es dann in dieser Distanz umkreist! Kein Wunder, dass Kuksi nicht mehr aus dem Zelt kommen wollte. Er musste das bemerkt haben.
Nicht aus Angst, aber weil wir die Wölfe nicht stören wollten, beschlossen wir, ihren Spuren nicht mehr weiter zu folgen. Wir gingen in die Gegenrichtung davon, bergab Richtung Süden, bis der Schnee immer dünner wurde und die Hälfte des Bodens bereits aper war. Hier stellten wir für diese Nacht unser Zelt auf. Gegen 22 Uhr, Kuksi und ich saßen in der Wiese vor unserem Zelt in stockdunkler Nacht, sprang mein Freund plötzlich auf und bellte wie besessen in eine Richtung. Ich stand auf und schaltete meine Stirnlampe ein. Da sah ich sie! Am Waldrand, etwa 70 m entfernt, waren mindestens drei Wölfe schemenhaft zu erkennen. Sie alle schauten zu mir und ihre Augen leuchteten in der dunklen Nacht. Sie schienen aber völlig gelassen zu bleiben. Nach vielleicht 30 Sekunden, und unter dem Dauergebell von Kuksi, zogen sie gemächlich weiter den Waldrand entlang nach unten an uns vorbei. Offenbar waren sie überzeugt, von uns nicht gesehen worden zu sein.
Am nächsten Morgen schaute ich mir ihre Spuren an. Ob sie zu dem 13 köpfigen Rudel gehört hatten, dem wir tagelang nachgegangen waren, konnte ich natürlich nicht sagen. Aber für mich war das eine der intensivsten Naturerfahrungen meines Lebens. Ich werde diese Begegnungen mit wilden Wölfen in den Südkarpaten, in der Region, wo Drakula sein Unwesen getrieben hat, nie vergessen. Noch heute, Kuksi ist schon 2 Jahre tot, wenn ich abends bei mir vor meiner Waldhütte sitze und in die Berge hinaus schaue, kommt die Erinnerung an jene Tage zurück, und sie erfüllt mich mit tiefer, stiller Freude. Ob ich eines Tages auch hier bei mir am Hochschwab abends ein Wolfsrudel heulen hören werde können? Ich würde es mir und meinen Kindern wünschen.