22. Dezember 2024

Beim Utilitarismus bleiben viele Fragen offen

Nick Cooney hat nun sein drittes Buch geschrieben. Ich finde den Zugang, statt politische Taktikunterschiede zu ideologisieren, sie wissenschaftlich zu untersuchen und zu vergleichen, sehr spannend. Aus Cooneys Büchern kann man diesbezüglich sicher einiges lernen. Doch andererseits strotzen seine Schriften von plattem Utilitarismus. Als er in Wien einen Vortrag über sein Buch „Change of Heart“ hielt, meinte er auf meine Frage ganz verwundert, dass es wohl allen AktivistInnen darum gehen müsse, möglichst viel Leid zu vermeiden. Das schien ihm völlig selbstverständlich und keiner weiteren Überlegung wert. So kommt er auf Forderungen, wie, man solle die Menschen dazu bringen, statt Hühnern Rinder zu essen, weil für dieselbe Menge Hühnerfleisch müssen viel mehr Tiere leiden als bei Rindfleisch, einfach weil Rinder größer sind. Also so etwas Seltsames als Kampagnenziel zu formulieren fiele mir nicht im Traum ein. PETA brachte es einmal auf den Punkt mit einer, wie ich glaube, ironisch gemeinten Forderung, nämlich Wal- statt Hühnerfleisch zu konsumieren, aus demselben Grund. Zu meinem Erstaunen traf ich in Cooneys Kielwasser kürzlich einige utilitaristisch denkende AktivistInnen in Wien. Das motiviert mich nun, darüber ein paar Worte zu verlieren.

Leid ist schlecht. Soviel sei offensichtlich. Und deshalb müssten doch ethisch motivierte AktivistInnen erreichen wollen, möglichst viel Leid zu vermeiden. Ganz ginge das nie, man müsse also einfach nur eine möglichst große Reduktion erreichen. Auch der „Effektive Altruismus“ scheint mir darauf abzuzielen und den Effekt von Kampagnen nach diesem Schema zu bewerten. Doch so platt ist das viel zu kurz gedacht.

Zunächst hat schon Epikur ausgeführt, dass der leidfreie, überraschende Tod kein Leid für das Opfer bedeutet, ja nicht einmal die Interessen des Opfers tangiert. Vor dem überraschenden Tod ist alles unverändert, danach gibt es kein Wesen mehr, das leiden könnte oder dessen Interessen durchkreuzt würden. Daher kann für platte UtilitaristInnen der leidfreie Tod, sofern niemand anderer dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird (z.B. durch den Verlust einer geliebten Person), kein ethisches Problem sein. Wenn es nur um Leid ginge, dann wäre es daher geboten, einfach alle leidensfähigen Wesen möglichst rasch leidfrei zu töten, dann gibt es kein Leid mehr, Mission erfüllt.   Dagegen wenden UtilitaristInnen nun ein, dass es nicht nur um Vermeiden von Leid, sondern auch um Fördern von Glücksgefühlen geht. Und würden wir alle leidensfähigen Lebewesen töten, dann würden wir auch Glücksgefühle und Freuden aus der Welt schaffen.

UtilitaristInnen sind also gezwungen, Leiden gegen Glücksgefühle abzuwägen. Und schon kommt man in Teufels Küche. Warum nicht eine alte Dame leidfrei und überraschend töten, wenn sie viel Geld hat, das dann zur Vermeidung von Leid vieler Wesen eingesetzt werden kann? Warum nicht Tierversuche an wenigen Tieren durchführen, wenn dadurch Leid an vielen Tieren vermieden werden kann? Warum nicht auch Menschenversuche aus demselben Grund? Peter Singer ist ja berühmt berüchtigt für seine utilitaristische Schlussfolgerung, dass es besser sei, behinderte Babys, die ein Leben voller Leid erwartet, mit Zustimmung der Eltern zu töten, wenn danach stattdessen ein gesundes Baby gezeugt wird, das mehr Glücksgefühle in die Welt bringt.

Aber damit sind die paradoxen Konsequenzen des Utilitarismus noch lange nicht ausgeschöpft. Ein paar praxisnahe Beispiele:

  • Was bedeutet weniger Leid: zu 22 kg schweren Monstern gezüchtete Puten zu Fleisch zu verarbeiten, oder der Wildform viel näher stehende Zuchtlinien, die aber nur 5 kg wiegen, und von denen man entsprechend wesentlich mehr halten und töten müsste? Zwingt uns der Utilitarismus also nicht, für Qualzuchten einzutreten?
  • Was bedeutet weniger Leid: rasant wachsende Zuchtlinien von Hühnern zu verwenden, die bereits nach 5 Wochen schlachtreif sind, also nur kurz leiden, oder normal wachsende Hühner, die viermal so lange für dieselbe Menge Fleisch leiden müssen? Wäre also eine effektive Tierschutzkampagne die Förderung rasch wachsender Hühnerzuchtlinien?
  • Das Käfigverbot für die Legehennenhaltung wurde als Tierschutzerfolg gefeiert. Nicht so für UtilitaristInnen. Ein Käfighuhn produziert mehr Eier als ein Huhn in Bodenhaltung, und das wiederum mehr, als ein Huhn in Freilandhaltung. Deshalb würde es vielleicht weniger Leid bedeuten, Legebatterien zu betreiben, als Freilandhaltung, weil dann um einiges weniger Hühner für dieselbe Menge an Eiern leiden müssten.
  • Müssten UtilitaristInnen nicht das Essen wildlebender Raubtiere propagieren, weil durch deren Tod wird das Leid all ihrer zukünftigen Opfer vermieden?

Es gäbe noch viele derartige Beispiele. Zumindest eines wird daraus klar: die Verringerung von Leid zu erreichen muss überhaupt nichts mit einem Schritt in Richtung Tierbefreiung zu tun haben. Die effektivsten Kampagnen im utilitaristischen Sinn, die also am meisten Leid vermeiden, sind kein politischer Fortschritt hin zu Tierrechten. Das allein ist für mich schon Grund genug, bei der Auswahl von Kampagnenzielen nicht utilitaristisch zu denken.

Abgesehen davon ist im Utilitarismus der direkte Mord an einem Menschen ethisch gleichwertig damit, nicht für hungernde Kinder soviel vom eigenen Geld zu spenden, wie nur möglich. Wenn es nur um Konsequenzen geht, ist es ja egal, aus welchem Grund Leid entsteht, ob direkt oder indirekt. Und das geht schließlich soweit, dass es ethisch gleichwertig wäre, ein Tierprodukt zu kaufen, oder ein veganes Produkt (wie einen Computer) von einer Person, die dann mit diesem Geld ein Tierprodukt kauft (oder ein weiteres veganes Produkt von einer anderen Person, die damit ein Tierprodukt kauft) usw.  Das wird doch rasch völlig absurd!

Aber die Crux liegt woanders. Würde es nicht Leid vermeiden, wenn wir Psychopharmaka ins Trinkwasser mischen, mit dem alle Menschen versorgt werden? Wäre es nicht die optimale Leidvermeidung, wenn das Leben nur noch virtuell wie im Film Matrix abliefe, und allen Menschen lediglich vorgegaukelt würde, mit vielen Glücksgefühlen und keinem Leid? Niemand will das, obwohl es Leid vermeiden würde. Warum? Weil wir dann unsere Autonomie verlieren!

Der berühmte Extremkletterer David Lama erklärte anlässlich einer Diskussion zum 70. Geburtstag von Reinhold Messner, dass er bei seinen Kletterprojekten dreifach leide. Er leide unter vielen Ängsten, wenn er die Sache plant, er leide unter sehr viel Stress, wenn er die Sache durchzieht, und er leide unter Leere und Depressionen, wenn die Sache überstanden ist. Wäre dann nicht Leidvermeidung, Lama einfach seine Kletterprojekte zu verbieten? Der würde uns schön etwas erzählen! Wieder: Lama möchte autonom entscheiden können, selbst wenn das für ihn mehr Leid bedeutet.

Ein Nerz in freier Wildbahn mag mehr Stress empfinden, als ein Nerz im Käfig einer Pelzfarm. Ein Schwein, das aus einer Tierfabrik gehen kann, mag mehr Stress empfinden, als diejenigen, die zurück bleiben. Ein Stier, der aus dem Schlachthof flieht, mag letztlich dadurch mehr leiden, als einer, der bleiben muss und rasch getötet wird. Aber in allen Fällen ziehen diese Tiere den größeren Stress bzw. das Leid vor, sie entscheiden sich für diese Option. Und diese Entscheidung ist zu respektieren.

Leidvermeidung für ein Individuum zu erreichen mag, wenn man sonst nichts weiß, in erster Näherung mit seinem autonomen Wunsch übereinstimmen, und daher seine Berechtigung als Kampagnenziel beziehen. Aber ultimativ ist nicht die Leidreduktion, sondern die Tierbefreiung, und damit Tierrechte, die diese Freiheit garantieren, das Ideal im Tierschutz. In keinem Fall kann man „Erbsen zählen“ und das Leid verschiedener Individuen aufrechnen, davon Glücksgefühle abziehen und damit irgendeinen ethischen Wert erreichen. Das ist viel zu kurz gedacht und führt in die Katastrophe.

Siehe auch: https://martinballuch.com/recht-auf-autonomie-statt-pflicht-zur-leidensminimierung-kritik-an-konsequentialismus-und-pathozentrismus/

14 Gedanken zu “Beim Utilitarismus bleiben viele Fragen offen

  1. Ich glaube man muss Leid/Glücksgefühl und die freie Entscheidung für etwas, deutlich trennen. Ich kann mich frei für oder gegen ein Leid oder für oder gegen ein Glücksgefühl entscheiden. Dem widerspricht die Definition, Leid sei immer das, was ein Wesen bei seiner freien Entscheidung vermeidet, und umgekehrt Glücksgefühle sind immer das, wofür sich ein freies Wesen entscheidet. Ich kann aus Pflichtgefühl Leid auf mich nehmen. Das ginge bei zweiterer Definition grundsätzlich nicht. Das erinnert mich an die Definition von Egoismus und Altruismus. Egoismus bezieht sich eben darauf, das eigene Glücksgefühl in den Vordergrund zu stellen. Wenn aber immer das, was ich tue, auch wenn ich Leid für andere auf mich nehme (Altruismus), eigentlich lediglich eine Entscheidung für mein Glücksgefühl ist (also Egoismus), dann gibt es überhaupt keinen Altruismus mehr. Und daher halte ich diese Definition nicht für sinnvoll.

    Es gibt zahllose Probleme mit dem Utilitarismus. Einer davon ist die mangelnde Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Verantwortlichkeit. Im Strafrecht wäre das dann der Unterschied zwischen Mord und fahrlässiger Tötung. Oder noch extremer: wenn mir eine Expartnerin sagt, ich dürfe mit einer anderen Frau nicht zusammen sein, sonst tötet sie sich, und ich entscheide mich für die andere Frau, und sie tötet sich tatsächlich, dann ist das doch überhaupt nicht dasselbe, als hätte ich sie ermordet. Der Mord wäre die gezielte Tötung von ihr, der andere Fall ist die Ausübung einer Handlung, die für meine Freiheit wichtig ist und die mir zusteht. Dieser Unterschied muss sich doch auch in einer ethischen Bewertung widerspiegeln.

    Ein anderes Problem ist die zentrale Rolle, die die Lust der Mörderin am Mord spielt. Ist diese nämlich gross genug, und der Mord schmerzfrei, überraschend und ohne trauernde Hinterbliebene zu hinterlassen, dann ist der Mord u.U. gerechtfertigt. Südstaaten der USA um 1900: extremer Rassismus einer weißen Mehrheit führt zu zahlreichen Lynchmorden, einmal sogar im Rahmen eines Volksfestes von 10.000 Personen. Die hatten offenbar eine große Freude daran, die Eisenbahnen ließen alle ZuschauerInnen sogar gratis anreisen, und sie waren wesentlich mehr, als die schwarze Minderheit und gar erst das eine Opfer. Wer sagt, dass die Freude dieser RassistInnen nicht das Leid des Opfers und der schwarzen Minderheit überwog?

    Kann, allen Ernstes, die Bewertung einer Tat als Mord davon abhängen, wieviel Lust die MörderInnen bei ihrer Tat hatten? Das ist doch ein Schlag ins Gesicht für jedeN MenschenrechtlerIn.

    Leid, zu dem ich mich frei entscheide, ist kein ethisches Problem (Leid ist also NICHT grundsätzlich schlecht) und Glücksgefühle, die MörderInnen bei ihrer Tat empfinden sind nicht gut (d.h. Glücksgefühle sind nicht grundsätzlich gut). Die Freiheit aller Wesen ist zu maximieren, nicht Glück minus Leid.

    Das zentrale Problem des Utilitarismus mit anderen Worten: Wesen mit Bewusstsein sind nicht nur Gefäße für Leid und Glück, sondern einzigartige Individuen. Sie sind nicht austauschbar, ihr Wert ergibt sich nicht einfach dadurch, wieviel Leid oder Glück sie empfinden. Auch das deprimierteste Wesen hat ein gleichwertiges Recht auf Leben, und sein Leben ist unendlich viel wert und unersetzbar, schon gar nicht durch ein anderes Wesen, das mehr Glück empfindet. Das macht das Leid-Addieren und Glück-Subtrahieren unmöglich: die Einzigartigkeit von Bewusstsein.

    1. Aber gerade die Definition, dass Leid das ist, was man nach seinem freien Willen vermeidet, und Glück das, was man anstrebt, ermöglicht doch eine sehr freie (und mMn sinvolle Definition) von Leid und Glück, die unter anderem auch beinhaltet, dass es einen manchmal “glücklicher” macht, Leid auf sich zu nehmen, weil man z.B. dahinter einen Sinn sieht. Für einen anderen, der keinen Sinn dahinter sieht, kann die gleiche Prozedur dann natürlich Leid bedeuten. Beides sollte man in seiner Abwägung berücksichtigen, weshalb es natürlich auch in utilitaristischem Sinne richtig ist, jemandem die freie Entscheidung zu lassen, ob er leiden will oder nicht (sofern er die Konsequenzen seines Handelns versteht).

      Bei Ihren Beispielne sehe ich das Problem und stimme ich Ihnen zu; da ist es tatsächlich gefährlich, Leid durch Glück aufrechnen zu wollen. Allerdings tun das die meisten Utilitaristen genausowenig wie die meisten Deontologen eher ein Opfer an seinen Mörder verraten als lügen würden … Es gibt Strömungen wie z.B. den Negativen Utilitarismus, die nur das Leid berücksichtigen und bei denen solche Probleme nicht auftreten.
      Ich persönlich bin hier z.B. der Meinung, dass sich Leid, nachdem es nur persönlich empfunden wird, nicht aufsummieren lässt, sehr wohl aber abwägen. Dementsprechend denke ich, man sollte die Möglichkeit wählen, die bei den beteiligten Personen das geringere Leid hervorruft, und wenn das Leid gleichwertig ist, dann jene Möglichkeit, bei der in Summe weniger Personen leiden.

      In Bezug auf die Individualität von Wesen stimme ich Ihnen ebenso zu (und kann nur wieder betonen, dass manche, aber nicht alle Strömungen des Utilitarismus diese Einstellung vertreten) – aber sind im Beispiel des Menschenversuches die Kranken nicht ebenfalls indivduelle Wesen, die einen Wert an sich haben und unersetzbar sind, und nicht nur das potenzielle Opfer des Versuchs? Warum sollten ihre Interessen in der Entscheidung für oder wider den Versuch weniger zählen?

  2. In Wahrheit ist es so, dass jeder alles nur für sich selbst tut. Wir leiden – und wir leiden mit. Unser eigenes Leid schmerzt, denn wer kein Mit-Leid empfindet, kümmert sich auch nicht um das Leid anderer. Es tut MIR weh zusehen zu müssen wie jemand leidet. Es tut MIR weh wenn jemand stirbt der mir etwas bedeutet. Ob das Objekt so leidet wie es mir erscheint ist ungewiss und uninteressant.
    Alles im Leben ist Egoismus und ein Egoismus steht gegen den anderen. Das führt zu Kollisionen – und zu Leid. Einer frisst den anderen auf, eines lebt vom anderen. Wir Menschen können dieses Prinzip nicht ändern. Am meisten gequält ist aber der Mit-Leidige, denn der erlebt tausendfache Qualen (mit).
    Fast jedes Lebewesen (es gibt auch solche die ihre Kinder fressen) geben ihren Egoismus nur dann auf, wenn sie Nachkommen haben. Die alten Leute eines afrikanischen Stammes haben beispielsweise aufgehört zu essen, damit die Kinder überleben konnten. In unserer Gesellschaft undenkbar. Warum? Es gibt zu viele von uns. Das ist der inflationäre Charakter aller Dinge. Wovon es genug gibt, das erscheint wertlos.
    Das Mitleid schwindet mit dem Steigen der eigenen Not. Dann wird erbarmungslos gequält und gemordet. Egal ob es Menschen oder Tiere sind.

  3. Ein Tier entscheidet sich nicht so einfach zwischen mehr oder weniger Leid, weil es das gar nicht abschätzen kann. Bei Menschen ist das nicht viel anders. Leben wollen ist ein Instinkt der uns angeboren ist. Hätten wir ihn nicht, würden wir mit Freuden alle in den Tod gehen. Selbstmord wird nur dann zur Option, wenn man “seine Autonomie” dadurch bewahrt. Menschen die stark bedroht sind bringen sich oft selbst um, weil sie selbst dann die Entscheidung über ihr Leben treffen. Also ist der Wunsch nach Autonomie in der Psyche stärker wirksam, als der Wille zu überleben. Selbstmordattentäter töten sich auch nicht weil sie sterben möchten, sondern weil sie wichtig sein wollen. Helden eben. So gesehen ist alles Leben konstruktiv. ES will leben und sein. Man könnte es auch einen Zwang nennen.
    Wollte man alles Leid verhindern, müsste man die Welt sprengen und alles Leben ausmerzen. In der Natur gibt es viele Qualen. Sie sind Teil des Lebens und wer leben will, muss sie aushalten können.
    Aber man muss nicht unnötig quälen. Qualvolle Krankheiten werden auch von Lebewesen verursacht. Tiere töten auf qualvollste Weise mit Giften. Wir müssen nicht quälen.

  4. Liebe Miriam,

    puh, das ist starker Tobak! Menschenversuche an Unschuldigen, um damit vielen anderen Menschen, die krank sind, das Leben zu retten oder die Gesundheit zu erhalten? Das ist wohl das komplette Gegenteil von Menschenrechten, nicht? Wer FÜR Utilitarismus ist, muss GEGEN Menschenrechte sein, weil diese sind ja gerade dafür geschaffen worden, um den utilitaristisch motivierten Missbrauch zu verhindern! Utilitarismus gegenüber Menschen durchzuziehen bringt einen in unserem Rechtssystem rasch ins Gefängnis.

    Peter Singer ist nicht für Tierrechte. Er sagt, er benutzt diese Sprache, weil das politisch verständlicher ist, aber er ist definitiv nicht für Tierrechte. Weil auch ihm Menschenversuche zu abstrus erscheinen, hat er ja das Konzept der Person eingeführt. Personen, also Wesen mit entsprechend stark entwickeltem Selbstbewusstsein, haben laut Singer Rechte, für die gilt nicht mehr die Leidensvermeidung, sondern das Grundrecht auf Freiheit. Deshalb ist er ja dafür, kleine behinderte Menschenbabys, die noch kein solches Selbstbewusstsein hätten, schmerzfrei zu töten, wenn die Eltern zustimmen und das wollen, weil es durch ein gesundes Baby ersetzt werden könnte und das Glück in dieser Welt steige an. Das ist für mich – und für viele andere Menschen – ein absolutes Horrorszenario. Und deshalb brachte ich meine Beispiele, nicht als Widerlegung, sondern um zu zeigen, was für Konsequenzen dieser Zugang hat. Konsequenzen, von denen ich hoffe, dass sie die allermeisten Menschen entsetzlich finden.

    Das grundlegende Argument gegen den Utilitarismus, das ihn völlig unhaltbar und irrational macht, habe ich im Link in meinem Blog angegeben. Es ist theoretisch und praktisch unmöglich, das Leid von Wesen X zum Leid von Wesen Y zu addieren und davon das Glücksgefühl von Wesen Z abzuziehen. Das geht schlicht und einfach nicht, wenn man nicht einen gemeinsamen Bezugsrahmen hat, also einen übergeordneten Wertestandpunkt, der diese Additionen und Subtraktionen ermöglicht. In der Mathematik nennen wir das eine Algebra. Man kann Addition und Subtraktion nur zwischen Dingen definieren, für die solche gemeinsamen Operationen in einem gemeinsamen Bezugsrahmen existieren. Was ist Äquator minus Hunger? Äquator und Hunger sind, genauso wie das Leid eines und eines ganz anderen Wesens, nicht addier- oder subtrahierbar.

    Abgesehen davon kommt noch das Argument dazu, das ich in meinem Buch “Der Hund und der Philosoph” entwickle (bzw. in der Kontinuität von Bewusstsein), und durch das letztlich nach Kant ableitbar wird, dass wir rational gezwungen sind, die Freiheit jedes Wesens, das frei sei kann, zu respektieren. Und DAS ist das Problem an der Matrix: die Leute werden doch gezwungen, da mitzumachen, die dürfen das ja nicht selbst entscheiden, ihre Freiheit wird nicht respektiert, sondern irgendjemand, der es meint, besser zu wissen, reduziert einfach ihr Leid, ohne sie zu fragen. Ihre Freiheit wird genauso wenig respektiert, wie die Freiheit jener Wesen, mit denen Sie medizinische Versuche anstellen wollen, um andere zu retten. Das widerspricht sich völlig, entweder Freiheit oder Leidensminimierung. Ich habe nichts dagegen, dass Sie frei entscheiden, Ihre Freiheit aufzugeben und sich an eine Matrix zu hängen. Ich aber will frei sein und leiden und von niemandem zur Leidensminimierung, weder von mir noch von der gesamten Welt, missbraucht werden.

    Und, nein, ich betrachte es nicht moralisch besser, Rind- statt Hühnerfleisch zu essen, weil Rinder größer sind. Das erscheint mir aus den genannten Gründen völlig absurd.

    1. Danke für die detailierte Antwort! Vieles hat mich zum Nachdenken gebracht und wird mich sicher noch eine Weile beschäftigen.

      Ich denke, eine grundlegende Differenz besteht darin, ob man einen ethischen Unterschied im passiven Unterlassen einer Handlung oder dem aktiven Setzen einer solchen sieht oder nicht. In unserer Gesellschaft und Ethik ist Ersteres aus irgendeinem Grund sehr stark verankert – weshalb man es weniger entsetzlich findet, eine größere Zahl Menschen an einer Krankheit sterben zu lassen, als einen Einzelnen aktiv zu opfern, auch wenn alle Personen dabei exakt gleich leiden würden. Möglicherweise gibt es dafür eine gute Rechtfertigung; ich habe nur bisher keine gefunden, die mich überzeugt (obwohl ich natürlich auch das Bauchgefühl teile). Deshalb sehe ich mich, sobald ich die Macht habe, eine Entscheidung zu fällen, in der Verantwortung für die Konsequenzen beider Möglichkeiten – unabhängig davon, ob ich mich zurücklehne und passiv geschehen lasse, oder ob ich eingreife.

      Es stimmt, dass die Menschenrechte (und natürlich unser Gesetz – doch das erlaubt ja auch den Missbrauch von nichtmenschlichen Tieren, ist also nicht wirklich ein ethischer Maßstab) dem manchmal widersprechen. In solchen Situationen sollte man sich dann aber auch klar machen, dass die Menschenrechte, wie sie auf der einen Seite das Leben eines Unschuldigen schützen, auf der anderen Seite mehrere Unschuldige trotz möglicher Rettung zum Tod verurteilen. Wie oben geschrieben, ich persönlich finde nicht, dass uns in so einem Fall Passivität davor schützt, die Verantwortung für die Konsequenzen unserer Entscheidung zu übernehmen. Man hat dann eben mehrere Tote auf dem Gewissen statt einem Einzigen …
      (Und wieder: Das mit dem Versuch ist ein rein hypothetisches Beispiel, in der Praxis lässt sich nie durch ein einzelnes Opfer das Leben vieler retten. Auch wenn TierexperimentatorInnen gerne so argumentieren).

      Es ist richtig, dass sich Leid und Glück nicht objektiv messen lässt; dennoch gibt es ein allgemeines Grundverständnis dafür, was leichter (z.B. Entzug von Luxusgütern) und schwerer wiegt (Folter, Tod), das wohl niemand anfechten würde. Wir alle leben im alltäglichen Umgang mit unseren Mitmenschen danach und auch unsere Rechtssprechung ist nach diesem allgemeinen Verständnis ausgerichtet. Es ist also nicht nur eine Sache des Utilitarismus, Leid zu gewichten.
      Trotzdem stimmt es natürlich, dass bei der “Berechnung” Missverständnisse oder – wahrscheinlicher – absichtlicher Missbrauch leicht passieren. Dementsprechend bin ich auch der Meinung, dass eine utilitaristische Gesetzgebung keine gute Idee wäre. Das ist jedoch keine Rechtfertigung, auf persönlicher Ebene eine Abwägung des Leidens, dort, wo sie möglich ist, nicht zu machen und sich mit Passivität aus dem Schneider zu ziehen.

      Zur Matrix: Wie bereits geschrieben – Personen, die viel Wert auf ihre Freiheit legen, leiden natürlich auch dann, wenn ihnen in Gefangenschaft Komfort geboten wird. Das ist genauso zu berücksichtigen wie jede andere Form von Leid.

  5. Miriam, ich habe leider gerade nicht die zeit, auf alles von dir geschriebene einzugehen, deshalb nur ein punkt. Du schreibst: “Nichts würde wohl so viel Leid vermeiden, wie allen leidfähigen Lebewesen das Recht auf ihr Leben, ihre Unversehrtheit und ihre Freiheit zu geben.”

    Das ist aber doch genau eines der probleme, die der utilitarismus hat! Was istt dann mit allen raubtieren, die unzahlen an anderen lebewesen (meist äußerst brutal) ermorden um sie zu essen? Was macht ein utilitaristischer aktivist dann? Am meisten leid vermieden wäre wohl, wen all raubtiere schmerzfrei getötet würden. Am meisten glück würde es im utilitaristischen sinn wohl auch produzieren, tötet ein raubtier doch massenweise andere lebewen.

    Und eine grundsätzlich unklarheit: wie rechnet man mit leid und glück? Wie kann man hier absolute zahlen bekommen, mit welchen gerechnet werden kann? Woher weiß man, dass 100 hüner bspw nicht viel weniger leiden, als ein rind? Das klingt in meinen ohren so absurd, dass ich kaum glauben kann, dies könne irgendjemandem logisch erscheinen.

    1. Liebe Sabinchen,

      dass ist tatsächlich ein Problem, dass sich aus utilitaristischer Sicht stellt (bzw. stellen würde, wenn die Annahme stimmt, dass man so tatsächlich mehr Leid verhindern könnte). Ich habe darüber noch nicht wirklich nachgedacht, glaube aber nicht, dass einerseits das Ausrotten sämtlicher Raubtiere machbar wäre und andererseits dadurch mehr Leid verhindert würde (schließlich sind Raubtiere leider nicht die einzigen Faktoren, die Wildtieren einen unnatürlichen und unangenehmen Tod bescheren).

      Aber theoretisch angenommen, es wäre tatsächlich möglich und man wüsste, dass man dadurch ingesamt mehr Leid verhindert – dann steht man vor einer grausamen Entscheidung, aus der man sich nicht herauswinden kann. Denn auch wenn man sich dazu entschließt, passiv zu bleiben, entscheidet man sich für etwas – nämlich in dem Fall das Leid der Beutetiere. Warum sollte man diesen gegenüber weniger moralische Verpflichtungen haben als den Raubtieren, nur weil der Zufall es so wollte, dass sie diejenigen sind, die leiden, wenn ich mir nicht “die Hände schmutzig machen” will?

      Zu dem Problem mit dem Aufrechnen von Leid und Glück habe ich bereits oben etwas geschrieben. Ich stimme zu, das ist eine heikle Sache und nicht immer möglich. Dennoch gibt es viele Situationen, in denen eindeutig klar ist, was mehr wiegt (z.B. Genuss eines Schnitzels vs Gefangenschaft und Schlachtung eines empfindsamen Lebewesens).

  6. Konsequenter Utilitarismus führt in der Tat zu ethischen Forderungen, die aus Sicht der “Alltagsmoral” bzw. dem Bauchgefühl (z.B. Töten ist immer schlechter als Nicht-Töten oder aktiv Leid zufügen ist schlimmer als passiv Leid geschehen lassen, …) vieler Menschen absurd oder gar unmenschlich erscheinen mögen. Das liegt aber daran, dass in vielen Situationen weniger Logik und Gerechtigkeit als unsere Sozialisierung entscheiden, was wir für richtig oder falsch halten. Gegen den Utilitarismus zu argumentieren, indem man diese Situationen einfach nur aufzählt und damit an besagtes Bauchgefühl der meisten Menschen appelliert, ist aber nicht gerade fair.
    Ich finde es z.B. auch besser, eine Kuh zu töten als Dutzende Hühner, wenn man nur diese beiden Möglichkeiten zur Auswahl hat – und ich denke, das findest du doch auch? Das heißt aber noch lange nicht, dass man nicht gleichzeitig fordern könnte, gar keine Tiere zu töten (wie Utilitaristen wie Peter Singer es ja tun).
    Auch das Beispiel mit den Tier- bzw. Menschenversuchen mag aus Sicht unserer Sozialisierung gruselig klingen. Aber kann man die Möglichkeit, mit dem Leben eines einzelnen Unschuldigen das Leben vieler (ebenfalls unschuldiger) Kranker zu retten, einfach so ohne Argumente abschmettern, weil einem das Bauchgefühl sagt, dass man so etwas nicht in Erwägung ziehen darf? (Dass das Beispiel rein hypothetisch ist, weil wissenschaftliche Versuche anders völlig anders ablaufen, ist natürlich klar.)

    Und warum sollten Tierrechte nicht im Sinne von Utilitaristen sein? Nichts würde wohl so viel Leid vermeiden, wie allen leidfähigen Lebewesen das Recht auf ihr Leben, ihre Unversehrtheit und ihre Freiheit zu geben. Letzteres müsste natürlich bei Tieren wegfallen, die durch Domestizierung nicht mehr in der Lage sind, allein zu überleben. Allerdings halten sich solche Tiere dann sowieso meist freiwillig in der Nähe von Menschen auf (Hunde, Katzen) oder es wäre ohnehin besser, sie nicht mehr weiterzuzüchten (Qualzuchten und Nutztiere, denen weder ein artgerechtes Leben in Freiheit noch in Gefangenschaft möglich ist).

    Zu guter Letzt glaube ich, dass ich auch so ein Mensch bin, der lieber zufrieden in der Matrix als frei in einer ungemütlichen Wirklichkeit leben würde. Ich kann gleichzeitig aber gut verstehen, dass viele Menschen die Freiheit vorziehen würden. Nur: Hier von sich selbst ausgehend zu behaupten, niemand würde das wollen, ist etwas kurz gedacht.
    Auch stellt sich die Frage – warum würden so viele eher die Freiheit wählen und dafür Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen? Doch auch nur, weil ihnen das Gefühl, frei tun und lassen zu können, was sie wollen, positive Gefühle bereitet! Glück ist ja nicht nur definiert als Bequemlichkeit und häusliche Zufriedenheit, sondern kann für manche auch das Gegenteil bedeuten – je nachdem, bei was man sich wohler fühlt.

  7. Die ethische und nachhaltige Unternehmensführung finde ich sehr wichtig, wenn man die Gesellschaft als Konzern auf seiner Seite haben will. Besonders in Großkonzernen passieren häufig sehr unmenschliche Dinge, die man nur mit Gewinnmaximierung und Geldgeilheit begründen kann.

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