Jared Diamonds Buch „Vermächtnis“ (S. Fischer 2013) über das Leben der UreinwohnerInnen in Neuguinea und anderswo ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Aber am meisten beeindruckt hat mich das Ausmaß der zwischenmenschlichen Gewalt, dem die UreinwohnerInnen ausgesetzt sind. Man mag über unsere Zivilisation und Massengesellschaft in vieler Hinsicht Beschwerde führen, aber den Angaben aus Diamonds Buch zu schließen gelang es durch Delegierung der Gewalt an eine Monopolinstitution und durch eine gewisse internationale Kontrolle des Kriegsgeschehens die Gefährdung der Einzelnen durch zwischenmenschliche Gewalt stark zu reduzieren.
Diamond z.B. meint, dass der typische Bewegungsradius der UreinwohnerInnen Neuguineas maximal 12 km betragen habe, bevor sie damit rechnen mussten, durch feindliche Personen anderer Stämme oder Horden umgebracht zu werden. Weiter konnte man also nicht reisen, um die Umgebung zu erforschen. Überhaupt sei es unter UreinwohnerInnen normal gewesen, bei der Begegnung mit Fremden diese nach Möglichkeit sofort zu töten, bevor sie es tun. Stämme seien mehr oder weniger in einem Dauerzustand des Krieges miteinander gestanden. Zwischenmenschliche Gewalt sei für bis zu 56% aller Todesfälle der Menschen verantwortlich gewesen. Im Vergleich zu Deutschland während des Zweiten Weltkriegs sei die Todesrate der diesbezüglich aktivsten Stämme prozentuell im Verhältnis zur Bevölkerungszahl im Mittel um das 10-fache höher gelegen. Gelang es bei Konflikten, GegnerInnen gefangen zu nehmen, habe man diese immer getötet, nur in Ausnahmefällen habe man diesen Menschen die Augen ausgestochen, um sie an der Flucht zu hindern, und sie dann für händische Arbeit eingesetzt.
Diamond berichtet auch wie selbstverständlich von Kannibalismus und stellt keine Sekunde in Frage, ob es diesen überhaupt gegeben habe. In seinem Bereich der Wissenschaft ist das offensichtlich längst belegt. Auch der Infantizid wird als typisches Verhalten beschrieben. Manchmal würde die Mutter selbst ihre Kinder töten, wenn sie behindert oder schwächlich zur Welt gekommen sind. Bekommt eine Mutter Zwillinge, dann würde häufig der Zweitgeborene gleich getötet oder vernachlässigt, sodass er nur überleben kann, wenn seine Eltern besonders erfolgreich Nahrung finden. Bei Adlern ist dieses Verhalten ja bekannt und oft habe ich gehört, wie es belegen würde, dass sich der Mensch von anderen Tieren unterscheide. Bei uns würde niemand einen Zwilling vernachlässigen! Aber das gilt offenbar nur für eine Zivilisation, die sich das leisten kann, lerne ich jetzt. In der Wildnis verhalten sich auch die Menschen diesbezüglich wie Adler.
Erstaunlich sind auch die zahlreichen Berichte von Massakern, die insbesondere im Hochland von Neuguinea dokumentiert sind. Ein Stamm überfällt einen anderen und rottet ihn vollständig aus, bis auf die gebärfähigen Frauen, die übernommen und in den eigenen Stamm integriert werden. Diese Frauen erleben also, wie ihre Männer, Eltern, Geschwister und Kinder ermordet werden, und fügen sich trotzdem in die Gruppe der MörderInnen ein, werden liebende Ehefrauen und gebären von den Mördern Kinder. Da dieses Verhalten so weit verbreitet scheint oder zumindest gewesen scheint, dürften diese Frauen auch keinen Langzeitgroll gegen ihre neue Gruppe hegen und sich später rächen, sonst hätte sich diese Praxis nicht durchgesetzt. Auch hier der Vergleich zu anderen Tieren. Wenn ein Gorillamann eine neue Gruppe übernimmt, tötet er i. A. die Kinder seines Vorgängers, um zu erreichen, dass die Frauen früher fruchtbar werden und mit ihm seine eigenen Kinder zeugen. Wie oft habe ich gehört, dass das Mensch vom Tier unterscheide: welche Menschenfrau würde mit dem Mörder ihrer Kinder freiwillig Sex haben und eine neue Familie gründen? Jede, die nicht durch eine Zivilisation geschützt wird, erklärt uns Diamond.
Ähnlich auch die Gewalt gegen alte oder sehr schwer kranke Menschen. Diamond berichtet von vielen Fällen, in denen diese mehr oder weniger freiwillig einfach getötet oder zurückgelassen werden, wenn sie der Gruppe zu sehr zur Last fallen. Das Töten und die Gewalt scheinen zur Selbstverständlichkeit zu werden, wenn man im Überlebenskampf steht und keine Absicherung durch ein Sozialsystem hat. Gerade die physisch Schwächeren also, die Kinder, die Alten, die Frauen und die unterlegenen FeindInnen, gewinnen in der Zivilisation am allermeisten. Diese Einsicht könnte helfen, unsere Gesellschaft heute mit etwas anderen Augen zu sehen. Eine ethische Veganbewegung unter Stämmen von UreinwohnerInnen scheint jedenfalls mehr als absurd.
Wenn dich das Thema Kindstötung in Europa interessiert: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDISS_derivate_000000005527/05_C._Rechtsgeschichtliche_Kurzdarstellung.pdf;jsessionid=834C7EF871B5339529492062B724570E?hosts=
Nicht alle Völker sind brutal.
Bei den Pygmäen, meinem Lieblingsvolk, haben beispielsweise Männer und Frauen gleiche Rechte. Bei ihnen kann jeder mitreden, weil sie zwar ein Oberhaupt haben, das aber keine Entscheidungen trifft. Alle entscheiden zusammen. Sie haben eigentlich keine Religion, sie leben in Kleinfamilien. Sie rechnen sich aus wieviele Kinder verträglich sind und sie verwenden deshalb Verhütungsmittel, oder sind zu diesem Zweck enthaltsam. Sie sind friedliebend.
Sie sind Nomaden und deshalb natürlich Jäger und Sammler.
“Eine ethische Veganbewegung unter Stämmen von UreinwohnerInnen scheint jedenfalls mehr als absurd.”
Das muss nicht viel bedeuten, denn vieles, was wir tun, ist letztlich widersprüchlich und absurd. Allerdings finde ich recht plausibel, dass die Alltagsgewalt durch unsere Organisation an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt wird. Dafür findet sie dort anscheinend in umso größeren Konzentrationen und in oft größerem Ausmaß statt. Und ein Rand unserer Gesellschaft ist die Grenze unserer Art. Ich hoffe wir sind tatsächlich zu einer nachhaltigen Entwicklung fähig und unser Verhalten wird nicht hauptsächlich durch Gelegenheiten bestimmt…