5. November 2024

Ideologie darf nie unmenschlich werden!

Verfolgt man die politische Radikalisierung der studentischen Szene in den 1960er Jahren in Deutschland, so kann man vieles als ungerecht nachempfinden. Die Schläge bei der berechtigten Demo gegen den Schah, der Tod von Benno Ohnesorg, der keine rechtlichen Konsequenzen für den Täter hatte, der sich später als Stasispitzel herausstellen sollte. Die ersten Waffen wurden durch V-Männer des Verfassungsschutzes zur Verfügung gestellt. Gudrun Ensslin organisierte da noch intelligente und gewaltfreie Aktionen gegen Demoverbote in Berlin, Andreas Baader trug den Sarg mit der Aufschrift „Senat“, aus dem medienträchtig Rainer Langhans von der Kommune I sprang. Bevor sich dieser kreative Aktionismus in Gewalt verlor, hätte es eine Notbremse gegeben: die Menschlichkeit. Wären nur die Spiegelneuronen eingeschaltet worden und hätte man mit dem politischen Gegner mitgefühlt, dann wäre vielleicht die Kurve zu kratzen gewesen, bevor sich die Ideologie verselbständigte.

Zwar hat es sich im Tierschutzaktivismus bisher zum Glück noch bei weitem nicht so weit entwickelt, aber die Rhetorik z.B. eines Jerry Vlasak oder eines Steven Best geht mir manchmal zu weit. Es gäbe Krieg gegen die Tiere, also müssten wir mit entsprechenden Mitteln zurückschlagen. Wer Pelztiere in Massen vergast sollte genauso behandelt werden, wie Nazis, die jene Personen, die sie als „Untermenschen“ sahen, vergasten. Der Tyrannenmord, hier wie da das berechtigte Mittel. „Was spricht dagegen?“, wurde ich von einem Hitzkopf gefragt.

Die Menschlichkeit. Ideologien haben ihre Berechtigung, genauso wie theoretische Überlegungen zur Ethik und Politik. Doch Theorien und eine Ethik auf der Basis von Prinzipien können sich leicht verselbständigen. Sie brauchen ein ständiges Korrektiv durch unsere Gefühle und durch warme, mitfühlende Empathie.

Beim Studium einer Biographie von Rudolf Höss, dem KZ-Kommandanten von Auschwitz, stieß ich auf seine letzten Worte in einem Brief an seinen ältesten Sohn, der sehr im nationalsozialistischen Sinn erzogen worden war. Höss sagte, er habe zwei große Fehler in seinem Leben gemacht. Er habe Autoritäten nie hinterfragt und sich nie eigene Gedanken gemacht, und insbesondere habe er sein Mitgefühl unterdrückt, wenn ihn der Befehl und die Ideologie zu grausamen Handlungen zwangen. Hier gebe ich ihm völlig recht. Wir dürfen nie unsere Spiegelneuronen ausschalten, da schon eher den Rest des Gehirns. Prinzipien brauchen ein ständiges Korrektiv.

Heute habe ich einen schrecklichen Fehler begangen, der mich bereits den gesamten Tag lahmlegt: ich habe mir das Video des IS angesehen, wo aufgezeichnet ist, wie ein jordanischer Kampfjetpilot lebendig verbrannt wird. Das sind so unfassbar schreckliche Szenen, nicht auszudrücken. Im Tierschutzbereich begegnet uns diese Problematik auch immer wieder. Es gibt Filme von Katzen, die in kochendes Wasser geworfen werden, um sie zu essen, oder Schweine, die man im Rahmen eines Tierversuchs mit einem Flammenwerfer verbrennt. Alles Szenen, wie in diesem IS Video, an denen wir nichts mehr ändern können, die also nur lähmen oder unbändigen Hass erzeugen.

Diesen Menschen des IS fehlt das Korrektiv der Menschlichkeit ebenso. Ihre Religion hat zu solchen Exzessen geführt, das Hinterfragen der Autorität und das Empfinden von Mitgefühl mussten abgeschaltet werden. Mit ihrer Ideologie sind sie in die Sackgasse geraten. Sie sind nicht mehr in der Lage, sich von außerhalb kritisch zu betrachten.

Natürlich sind sie nicht die Einzigen. Auch die Sprengung eines Familienhauses mit BewohnerInnen darin durch eine US-amerikanische Drohne erfordert genau das: kein Hinterfragen von Autoritäten und abgeschaltene Spiegelneuronen.

Deshalb mein Appell, zumindest an uns selbst. Jede Ideologie, auch wenn sie noch so altruistisch und allumfassend ist, wie Tierschutz und Tierrechte, braucht auch unseren GegnerInnen gegenüber das Korrektiv eines warmen, aufmerksamen, empathischen Mitgefühls, das in allem die oberste Priorität haben muss.

5 Gedanken zu “Ideologie darf nie unmenschlich werden!

  1. Ob Rudolf Höss gegen sein Gefühl handelte oder ob er zu Mitgefühl gar nicht fähig war, wie Veronika oben meint, wage ich nicht zu entscheiden. Aber ich habe in einer Doku gehört, dass Heinrich Himmler in Ohnmacht gefallen sei, als er einer Massenerschießung beiwohnte. Seine Rede über die Schwierigkeit, angesichts Hunderter Toter ein “anständiger Mensch” (!) zu bleiben, womit er offensichtlich jemanden meinte, der diesen Massenmord auszuführen bereit ist und erträgt, spricht für sich. Ich denke in Anbetracht seiner Ohnmachts-Reaktion nicht, dass er ein Sadist war, sondern jemand, der – ideologisch verblendet – von sich und anderen verlangte, unter Ausschaltung der Gefühle das zu tun, was die Nazi-Ideologie unter “Pflichterfüllung” verstand. Hier bin ich ganz bei Martin Balluch, der an die Kontolle der Ideologie durch die Spiegelneutronen appelliert.
    Ich bin ihm übrigens dankbar, dass er den Bildausschnitt der grausamen IS-Aktion so gewählt hat, dass uns erspart bleibt, den verbrennenden Menschen zu sehen.
    Was mich bei meiner Arbeit als Lehrerin in den letzten Schulmonaten sehr schockiert hat, war, dass eine große Zahl meiner Schüler/innen fähig waren, sich die IS-Enthauptungsvideos anzuschauen, und das ohne große Betroffenheit. Einige “argumentierten”, sie fänden diese Morde ja nicht gut, verstanden aber nicht, warum sie ein Problem damit haben sollten, sie sich anzusehen.
    Diese Schüler/innen vertreten keinerlei Ideologie, der sie ihr Mitgefühl opfern, sie scheinen ganz einfach keines zu besitzen. Fehlende Spiegelneuronen oder eben solche, die durch gespielte Gewalt- und Horrorvideos abgestumpft sind? Ich weiß es nicht. Auf meine entsetzte Frage, wie man sich diese IS-Gräuelvideos überhaupt ansehenen könne, erhielt ich mehrfach die verwunderte Antwort: “Haben SIe sich noch nie einen Horrorfilm angeschaut?” Offensichtlich verschwimmt für viele Jugendliche der Unterschied zwischen Fiktion und Realität. Das allein reicht mir aber als Erklärung für die Ungerührtheit beim Betrachten grauenhafter Szenen nicht aus. Ein Mensch mit einer guten Ausstattung an besagten Spiegelneuronen, der nicht aus irgendwelchen Gründen gegen sein Mitgefühl ankämpfen zum müssen glaubt, schaut sich nicht einmal gestellte Gewaltszenen gerne an. Wenn´s grausig wurde, habe ich immer unwillkürlich weggeschaut.
    Ich kann mir die Gefühllosigkeit einer großen Zahl meiner Schüler/innen nicht wirklich erklären. Aber sie schockiert mich. Es handelt sich hier nicht um Randgruppenjugendliche aus sozial bedenklichen Verhältnissen, sondern um “ganz normale” Schüler/innen einer HTL.
    Es gibt auch die anderen, die es kaum ertragen, mit den beinahe täglichen Schreckensmeldungen in der medialen Berichterstattung konfrontiert zu werden, die gar keine Bilder brauchen, um entsetzt zu sein. Was die Ursachen für so unterschiedliche Reaktionen sind, bleibt mir letztlich ein Rätsel. Dass bei manchen Menschen die Spiegelneuronen kaum vorhanden sind oder schlecht arbeiten, scheint mir klar, aber wie kommt es zu diesem Defizit und gibt es Möglichkeiten, das Mitgefühl in diesem Alter noch zu trainieren?

  2. Als erstes möchte ich sagen, dass der Kampf für die Rechte der Tiere der Kampf gegen Menschen ist!
    Der Unterschied zwischen zu einem Krieg von Menschen gegen Menschen (unabhängig von Motiven) ist, dass beide Parteien der gleichen Spezies angehören.
    Wenn die Stärke des Einen die Ausbeutung des Anderen bedeutet, ist zwar ungerecht und erzeugt bei politisch empfindlichen Menschen Wut und oft Aufstand, aber alles spielt sich in Rahmen einer biologisch (nicht ethisch) gesehen berechtigen Ebene.
    Theoretisch, hätte sogar der schwächere Partner zu mindestens die Möglichkeit der Verteidigung.

    Anders bei der Verteidigung der Tiere.
    Unser Krieg ist ein Stellvertreterkrieg.
    Wir sind nicht die Opfer, und die Tierquäler sind nicht die Unseren.
    Mit allem was wir jeden Tag riskieren, unternehmen, organisieren, tun wir nicht mal eine Euro in unsere Tasche.
    Im Gegenteil.
    Wir müssen uns rechtfertigen, warum wir kein Fleisch essen, keinen Pelz tragen, oft Anwälte zu unserer Verteidigung bezahlen, und warum wir Stunden lang auf der Fußgängerzone mit -10 Grad stehen, um dieser taub-stumm- Gesellschaft das Selbstverständliche beizubringen.
    Der Kampf für die Rechte der Tiere ist keine Ideologie, zu mindestens nicht für mich.
    Das Wort Ideologie verbinden die Meisten mit Fanatismus, Blindheit, Manipulation von oben, aus diesem Grund vermeide ich prinzipiell seine Verwendung im Alltag.

    Ich finde, der Kampf gegen die Ausbeutung der Tiere ist doch Krieg.
    Das hat man besser in den 90 er Jahren verstanden, durch die Aktionen der A.L.F. vor allem in den U.S.A.

    In zwischen reden wir von dem „parlamentarischen„ Weg des Tier Aktivismus, und meinen damit Petitionen, Briefe an Parlamentariern der EU und Ministerien schicken, Lichtkerzenaktionen und so weiter und so fort.
    In zwischen ist allerdings die Gegnerseite viel brutaler und schlauer geworden, das muss ich sagen.
    Die Einstufung und Verurteilung der Aktivisten als Terroristen, hat Mut und Praxis in der Tierrechtsszene radikal verändert.
    Es ist deshalb egal ob wir mit der Theorie von Vlasak oder Dr. Best einverstanden sind oder nicht, primär sollten wir es gut überlegen, mit welchen Mitteln uns selber gegen einem bis an die Zähne bewaffneten System schützen können.

    Es geht also nicht darum was moralisch vertretbar ist.
    Es geht darum was realistisch ist, und welche Ergebnisse erreichen wir, wenn wir so oder anders handeln.
    Wenn es nach der Moral ginge, hätten viele und gerne einige Pelz- oder „Nutz“tier Farmen in die Luft gesprengt, wenn man wüsste dass man nicht ins Gefängnis lande.
    Nicht die heuchlerische Nächstenliebe hätte einem davon abgehalten, sondern die Angst vor der Straffe.
    Aus diesem Grund landet man ja schließlich auch in den „parlamentarischen“ Weg und gibt sich mit dem Tierschutz zufrieden.
    Ist zwar oft auch wirksam, aber nicht im Einklang mit meiner Moral.
    Amor

  3. Ich denke Rudolf Höss war wie viele andere ein Psychopath, der gar nicht fähig war Mitleid zu empfinden. Was ihm Leid tat war, dass er sich den falschen Leuten angeschlossen hatte. Denn diese waren anfangs die Siegreichen, die Mächtigen und die vielfach Verehrten. Sie haben ihm versprochen er würde nicht für seine Taten büßen müssen. Er war einer von ihnen. Letzten Endes wurden aus den Siegreichen die großen Verlierer – und er einer von denen. DAS tat ihm Leid.

    Ihm wurden ganz sicher nicht sehr viele Befehle erteilt. Die Führungsschichten waren nicht so arm und geknechtet dass sie nicht anders “konnten”. Um solche Jobs hat man sich gerissen. So viel ich weiß erlaubte man ihnen sogar kreativ zu sein, selbstständig zu handeln. Das waren keine “Befehlsempfänger” im üblichen Sinn.

    “Das Böse” ist eine Realität. Böse Menschen sind eine Realität. Sie schließen sich denen an die ihnen ermöglichen, ihre Gelüste wenn möglich straffrei auszuleben. In den Krankenanstalten, Kinderheimen, etc. werken schätzungsweise an die 40% Sadisten. Bei Polizei, Geheimdiensten, Militär, werden es noch mehr sein. In den Laboratorien in denen man Tierversuche macht, inclusive der Personen die für die Tiere zuständig sind, werden es sicher fast an die 100% sein.

    Gerade dort wo Ideologien eine Rolle spielen, machen sich auch Sadisten und Psychopathen breit. Ideologien ermöglichen ihnen, ihre perversen Verhaltensweisen zu begründen. Sie erklären dann, für Gott, Vaterland, oder was weiß ich was, foltern und töten zu müssen. Sie sehen sich selbst auch als die “Guten”, obwohl sie der Abschaum der Menschheit sind.

  4. Ich würde mich nicht auf persönliche Empfindungen verlassen wollen. Die sind höchst variabel und situationsabhängig. Ich denke da zum Beispiel auch an Leute, die selbst dann, wenn sie persönlich bedroht sind, keinerlei Einsehen in ihre Greueltaten haben. Die provozieren dann weiter obwohl sie das gefährdet. Sie haben praktisch mit sich selbst kein Mitleid. Da helfen dann Spiegelneuronen auch niccht weiter.
    Viel zuverlässiger erscheint mir die Grundidee niemals Dinge zu tun, die wir ablehnen würden, wenn sie zur Erreichung anderer Ziele eingesetzt würden. Wir haben keine Garantie zu erreichen, was wir anstreben, aber wir haben auf jeden Fall getan, was wir ausführen. Relevant ist nicht, was wir bewirken wollen, sondern viel mehr, was wir tatsächlich tun. Verkürzt formuliert: Der Zweck heiligt nicht die Mittel, weil der Weg das Ziel ist.

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