5. November 2024

In 30 ¾ Stunden quer über den Hochschwab!

Das Hochschwabgebirge ist nicht nur ein Berg, es ist eine ganze Bergregion. Und von Wien aus kommend, die mit Abstand wildeste, in einer Distanz von 150 km von der Hauptstadt entfernt. Der Hochschwab ist meine Heimat, wenn ich das so pathetisch sagen darf. Dort habe ich mit 16 meine erste große Felswand erklettert. Dort bin ich in den stillsten Winkeln unterwegs, in urwaldartigen Restbeständen, in Fels und Eis, oder auf den weiten Hochebenen. So reifte in mir der Gedanke den Hochschwab einmal sozusagen auszumessen. Ich wollte ihn von West nach Ost an einem einzigen Tag begehen. Dieselbe Route bin ich im November 2008 mit meinem Hundefreund Kuksi als seine erste Hochgebirgstour gegangen. Damals allerdings 5 Tage lang. Warum also nicht einmal die gesamte Länge in 24 Stunden durchqueren, ohne Pause? Von Hieflau an der Enns, am Ausgang des Gesäuses, bis zum Brandhof am Seebergsattel.

Ich habe die Strecke auf der Karte genau vermessen. Sie ist 65,8 km lang, und es geht 4253 m hinauf und 3712 m hinunter. Wenn man sich nicht verläuft. Eine große Herausforderung.

Clemens schloss sich Kuksi und mir an. Im Juni wurde er 25. bei der österreichischen Staatsmeisterschaft im Gebirgslauf. Da ging es 50 km um den Ötscher herum, mit 1900 m Anstieg. Er absolvierte diese Runde in 5 ½ Stunden, eine unfassbare Leistung. Seine KollegInnen im Team Vegan schlugen sich auch prächtig, insbesondere Thomas Unger, der mit 4 ½ Stunden Laufzeit sogar den hervorragenden vierten Platz belegte. Wir ergänzten uns großartig: Clemens war um einiges fitter als ich, während ich wiederum wesentlich mehr Bergerfahrung mitbrachte. Kuksi würde sowohl bei der Fitness als auch bei der Bergerfahrung mithalten, soviel wusste ich. Es konnte also losgehen.

P1040373kleinAbmarsch im Regen

Nach einem sehr langen Arbeitstag in Graz konnten wir um 21 Uhr endlich anreisen. Von warmem Sonnenschein kamen wir in Regen und dichten Nebel. Verschieben? Dazu waren wir bereits zu weit in der Vorbereitung, und der Wetterbericht sprach von Aufklaren am Nachmittag. Also werden wir einfach drauflosgehen.

An Kleidung brachte ich nur ein T-Shirt und eine Jacke mit, die nicht regenfest war. Für die Füße hatten wir uns für Sportschuhe entschieden, um möglichst rasch vorwärts zu kommen. Der Proviant bestand aus 3 Litern Flüssigkeit, sowie ein paar Nüssen und Trockenfrüchten, und einem (veganen) Stück Leberkäse, das ich mit Kuksi teilen wollte.

Frühstück um 3 Uhr früh. Der anhaltende Regen verzögert den Aufbruch. Schließlich ist es um Punkt 6 Uhr so weit. Wir wandern in den dichten Nebel hinein, nach wenigen Minuten bin ich durch und durch nass.

Eine Kuh greift an

Am Wintersattel steht uns eine Kuh gegenüber. Kuksi und ich versuchen sie zu vertreiben, doch sie greift sofort an, allerdings zum Glück nur Kuksi, der rasch zur Seite springt, sodass ich an ihr vorbei huschen und den Wald hinauf laufen kann. Kuksi und Clemens folgen mir gleich. Jetzt können wir die Kühe in einem Bogen umgehen und ins Schwabeltal absteigen.

Dort angekommen müssen wir den Schwabelbach überqueren – ohne Brücke. Er ist zu breit, um von Stein zu Stein zu hüpfen. Also mitten durch waten. Bei dem Regen ist das auch schon wurscht.

P1040382kleinGemse mit Beinbruch

4 Stunden sind wir bereits in sehr flottem Tempo unterwegs, als plötzlich eine Gemse vor uns auf der Forststraße steht, keine 10 m entfernt hinter einer Biegung. Kuksi läuft zögerlich auf sie zu. Die Gemse bleibt stehen, beugt ihren Kopf. Pass auf, sag ich zu Kuksi verwirrt. Plötzlich springt die Gemse los und da sehen wir es: ihr linkes Hinterbein lahmt irgendwie, sie kann es nicht aufsetzen. Kuksi will ihr hinterher laufen, da stürzt sie schon direkt neben der Straße in das tiefe Gras. Kuksi steht vor ihr und will sie beschnuppern. Kein Anzeichen von Jagdlust oder Aggression. Ich bitte ihn, die Gemse in Ruhe zu lassen, sag ihm noch, dass sie sehr arm ist und Hilfe braucht. Doch leichter gesagt als getan. Einen Jäger zu rufen ist ihr Todesurteil. Sie sitzt hier mitten im Gras, ihrer Nahrung. Sie kann sich zumindest ein bisschen bewegen. Bis zum Winter hat sie eine gute Chance zur Erholung. Tierrettung können wir hier keine herrufen, das Handy hat keinen Kontakt. So lassen wir sie schweren Herzens einfach zurück, mit ihren großen, weit aufgerissenen Augen. Ich hoffe sehr, dass es ihr jetzt besser geht!

Schon wieder Kühe

Am steilen Aufstieg zum Ochsenboden bimmeln schon wieder Kuhglocken. Wir schleichen uns an, wechseln im dichten, klatschnassen Unterholz Hangseite. Da sind die Kühe schon wieder über uns, auch wenn sie uns noch nicht entdeckt haben. Also wieder zurück und auf die andere Seite. Jetzt kommen wir durch und gewinnen rasch an Höhe.

Auf der Hochebene öffnet sich die Landschaft. Hier, auf 1500 m Seehöhe, stehen hunderte Jahre alte Fichten und bilden eine Urlandschaft, die wie vom Menschen unberührt scheint. Auf der Rolleralm nehmen wir das erste Mal ein bisschen Nahrung zu uns, eine kurze Rast. Bis zur Eisenerzer Höhe können wir erstmals einem markierten Weg folgen. Um 13 Uhr kommen wir dort an, nach 7 Stunden, 21,8 km Streckenlänge und 1800 m Aufstieg. Es regnet noch immer leicht, es weht ein eiskalter Wind, keine Sonne weit und breit. Die Nebeldecke befindet sich knapp über uns.

Am Teufelssee

Zahlreiche Alpensalamander, Frösche und Kröten säumen unseren Weg. Auch ein Reh und mehrere Gemsen – diesmal völlig gesund – waren zu sehen. Auf einem Steiglein queren wir die Grabenbaueralm und gehen über den Seekogel steil zum Teufelssee hinunter. Hier haben wir Anfang November 2008 unsere zweite Nacht verbracht. Heute sind wir nach 9 Stunden um 15 Uhr angekommen. Noch liegen wir gut in der Zeit. Doch das sollte sich rasch ändern.

Beim See findet Kuksi eine tote Gemse, an der nicht mehr viel Fleisch zu finden ist. Wir lassen ihm ein bisschen Zeit an einem Bein zu knabbern. Nachdem er den Unterschenkel verzehrt hat, hört er auf.

An meinen Füssen zeigen sich erste Verschleißerscheinungen. Die Dauernässe hat die Haut aufgelöst, das Auftreten, insbesondere an den Zehen und der Ferse, beginnt schmerzhaft zu stechen. Ein Blick auf den rechten Schuh lässt mich erschrecken. Offenbar aufgrund der starken Nässe hat sich die Sohle fast bis zur Hälfte vom Schuh gelöst! Von da an muss ich die Sohle immer wieder neu mit einem Schuhriemen anbinden, damit ich nicht bloßfüßig dastehe. So etwas ist mir noch nie passiert! Ausgerechnet heute.

P1040407kleinDurchs Unterholz

Vom Teufelssee führt ein unmarkierter Pfad zum Kreuzpfäder. Wir schlagen den direkten Weg zum Schafhalssattel ein – und stehen kurz darauf weglos im Dickicht. Die Steigspuren verlieren sich im Unterholz. 3 ½ Stunden klettern wir durch dichte Latschen, Felsen hinauf und hinunter, durch tiefe Schluchten und am Schluss steil zum Sattel hinauf. Es ist sehr anstrengend, mein Vorrat an Kohlenhydraten ist bald aufgebraucht.

Vor dem rettenden Sattel, ab dem wieder ein markierter Weg auf uns wartet, sprintet plötzlich ein ausgewachsener Hirsch im Galopp an uns vorbei. Majestätisch sein Geweih, unglaublich seine Geschwindigkeit. Ein großes und kräftiges Tier.

Kurz darauf kreist über uns ein Steinadler.

Um 19:15 Uhr stehen wir endlich erschöpft am Sattel oben. Jetzt haben wir so viel Zeit und Kraft verloren, dass unser Ziel, die Überquerung in 24 Stunden zu schaffen, nicht mehr erreichbar ist. Macht nichts. Dauert es eben länger.

Es regnet schon wieder leicht, knapp über uns die Wolkendecke. Aber direkt vor uns Kühe! Wir schleichen uns durch die Latschen verdeckt an. Dann bitte ich Kuksi, sitzen zu bleiben – Clemens bleibt auch bei ihm – und ich laufe vor. Kurz darauf folgt mir Kuksi und so schnell können die Kühe gar nicht schauen, sind wir schon an ihnen vorbei.

Es wird Abend

Nun gehen wir den langen aber gemütlichen Weg über die Sonnschien- zur Häuslalm. Den Sackwiesensee lassen wir links liegen, es wird nämlich bereits dunkel. Ab der Häuslalm müssen wir Stirnlampen einschalten.

Jetzt wird’s brisant. Bei totaler Dunkelheit – schaltet man die Lampe ab sieht man absolut gar nichts mehr – und dichtestem Nebel, sodass der Lampenschein unangenehm reflektiert, hanteln wir uns von Markierung zu Markierung. Zum Glück gibt’s hier Stangen, weil das auch als Winterweg benutzt wird.

P1040421kleinApropos Winter! Noch liegen hier zahlreiche Schneefelder, oft steil zwischen die Felsen gespannt. Der Schnee ist bretthart, unsere Sportschuhe können kaum Halt finden. So tänzeln wir in totaler Finsternis, bei heftigem Sturm und immer wieder Regen über diese Eisflächen, ohne ihr Ende im dunklen Schlund sehen zu können. Ausrutschen wäre höchst lebensgefährlich, es ist unmöglich, sich bei dieser Steilheit noch aufzufangen. Laut Unfallstatistik sterben erstaunlich viele Menschen auf diese Weise pro Jahr in Österreichs Bergen.

Oft verlieren wir den Weg, müssen wieder zurück, wieder nach vor, links und rechts. Endlich wieder eine Markierungsstange. Manchmal klettern wir über Felsen in gespenstischer Atmosphäre. Der Sturm ist nun so stark und kalt, wir befinden uns über 2100 m Höhe, sodass wir gar keine Pause machen könnten, ohne erbärmlich zu frieren.

Ab in die Biwakschachtel

Doch ein Ziel hält mich aufrecht: die Fleischerbiwakschachtel. Sie wurde dort errichtet, wo vor mehr als 100 Jahren eine Wandergruppe eines Herrn Ferdinand Fleischer zu Ostern im Schneesturm zu Tode kam. Ich habe hier schon so manche Nacht verbracht, bin auch einmal in den 1980er Jahren zu Ostern im Schneesturm hinein geflüchtet. Damals hat der Sturm meine Zeltplane zerrissen und die Südwand hinunter geweht und nur durch mein Körpergewicht flog ich nicht mit. Ohne Zelt war die Biwakschachtel meine Rettung

Diesmal war es zwar nicht so ernst, aber als wir um 2 Uhr früh nach 20 Stunden ständiger Wanderung und nach etwa 3800 m Aufstieg endlich ankamen, waren wir dennoch froh, ein bisschen vor Wind und Wetter Schutz zu finden. Ich kenne zwar die Gegend sehr gut, aber unter diesen Bedingungen hielt ich ein Weitergehen im Dunkeln nach der Abzweigung des Meransteigs – ohne Schimarkierung durch Stangen – für zu gefährlich. Also warteten wir die 3 Stunden ab, bis die Sonne aufging. Der Sturm hatte um nichts nachgelassen, der Nebel ebenfalls. Trotzdem machten wir uns sofort auf den Weg.

P1040420kleinEndlos über die Aflenzer Staritzen

Bald ließen wir das Schiestlhaus im dichten Nebel links liegen und wanderten um die Eismauer ins Ochsenreichkar, wo wir um 7 Uhr früh ankamen Dort mussten wir das bisher steilste Schneefeld überwinden und Clemens beschloss, völlig zurecht, es lieber über die Felsen zu umgehen. Immer wieder kreuzten Gemsen unseren Weg und Murmeltiere ließen ihre schrillen Pfiffe hören, während sie aufmerksam an ihrem Baueingang standen. Endlich riss der Nebel auf und machte den Blick in die sagenumwobenen Felsringe frei. Der untere mit 1000 m Wandhöhe ist imposant, der obere mit immer noch 600 m wird durch die steile Ostwand des Ringkamp abgeschlossen.

Wenn die Ringe rauchen, so heißt es, wird das Wetter schlecht. Die Ringe rauchten nicht. Aber schlechter konnte das Wetter sowieso nicht mehr werden.

Um 8:50 Uhr erreichten wir schließlich die Abzweigung zur Hochweichsel und damit den allerletzten Anstieg unserer Tour auf die Niedere Scharte. Schritt für Schritt schlich ich empor, Clemens ging dagegen noch richtig leichtfüßig. Beide waren wir aber mittlerweile unendlich müde, nach fast keinem Schlaf seit gut 50 Stunden!

Dann ging es über den Prinzensteig zur Graualm, am Weg gut 50 Kühe. Kuksi versteckte sich, ich lief voraus und rief ihn. Nach mehr als 29 Stunden Wanderung musste er nun einen 500 m Sprint zwischen den Kühen hindurch hinlegen, aber das gelang ihm mit Bravour. Wieder war er wie ein schwarzer Blitz schon längst auf und davon, bevor die Wiederkäuer richtig auf ihn aufmerksam wurden.

Schließlich ging es noch 400 m steil hinab zum Brandhof am Seebergsattel. Nach genau 30 ¾ Stunden, davon 27 ½ Stunden reine Gehzeit, kamen wir dort um 12:45 Uhr an.

Resümee

Ein irgendwie surreales, aber eindrückliches Erlebnis. Ein Tanz auf dem Vulkan. Wanderer haben wir keine getroffen, außer ganz zuletzt beim Abstieg. Körperlich habe ich die lange Wanderung praktisch ohne Nahrung gut verkraftet. Ich hatte danach keinerlei Muskelkater oder Erschöpfungserscheinungen. Aber die ständig nassen Füße und die Kleidung hinterließen blutige Spuren und riesige, schmerzhafte Blasen auf der Haut. Nach wenigen Stunden klang das alles aber wieder ab. Ich denke schon, dass diese Tour in 24 Stunden zu schaffen ist – wenn das Wetter entspricht und man nicht, wie wir, den Weg verliert. Jedenfalls habe ich gelernt, dass ich einfach weiter und immer weiter gehen kann, ohne an eine physische Grenze zu stoßen, zumindest nach 30 Stunden noch nicht. Und das trotzdem ich seit 26 Jahren vegan lebe. Oder gerade deswegen.

Und Kuksi?

Kann man so etwas einem Hund antun? Na sicher. Kuksi war fitter als wir Menschen zusammen. Er war so genügsam, bedurfte keines Wassers und nahm fast keine Nahrung zu ich. Er blieb die ganze Tour hindurch fröhlich und an seiner Umgebung interessiert. Nie begann er zu humpeln oder eine Pause einzufordern, oder, so wie wir, zu frieren. Er hatte alles bestens im Griff.

Die gesamte Zeit hindurch habe ich ihn auch nie zu mir gerufen oder davon abgehalten, etwas zu tun. Nur bei der verletzten Gemse bat ich ihn, ein bisschen weiter weg zu gehen, um sie nicht zu erschrecken. Und das tat er sofort.

Wieder muss ich feststellen, dass wir Menschen unseren Hundefreunden oft sehr viel weniger zutrauen, als sie zu leisten in der Lage sind. Er lief nackt und ohne Schuhe so lange über die Berge und durchs dichteste Unterholz, ohne Nahrung oder Wasser mit zu haben oder zu benötigen! Dafür hat er meine volle Bewunderung!

P1040411klein

2 Gedanken zu “In 30 ¾ Stunden quer über den Hochschwab!

  1. Vor einigen Wochen war ich auch in dieser wunderbaren Gegend. Von Weichselboden zum Unteren – u. weiter hinauf zum Oberen Ring. Dann Aufstieg durch die Wasserfallschlucht zum Staritzenweg und dann den Steinmandln folgend zum Ringkamp.
    Ein imposantes Fels – Panorama u. ganzen Tag herrliches Wetter.

    Zum Zusammentreffen mit der verletzten Gemse in dem Bericht :
    Wenn das Tier nicht weglaufen (humpeln) kann, muß die Verletzung ziemlich schwerwiegend sein. Was soll man tun ? Der Natur ihren Lauf lassen (wahrscheinlich qualvoller Tod) ?
    od. Sterbehilfe ? Die Situation kenn ich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert