22. Dezember 2024

Wenn sich das Großhirn des Hundes einschaltet

Kürzlich habe ich im Text einer sehr tierfreundlichen Hundetrainerin, die Hunde durchaus auch als autonome Wesen sieht, die ohne Befehle auskommen und bewusst frei entscheiden können, gelesen, dass die Begegnung mit anderen Hunden für einen Hund ein Reiz sei, auf den adäquat zu reagieren gelernt werden müsse und dafür positive Verstärkung nötig wäre. Gleich vorweg: ich habe mit dieser Frau nachher korrespondiert und wir sind überein gekommen, dass Konditionierung und Verhaltenstherapie bei schwer verhaltensgestörten Hunden (wie z.B. manche Hunde aus dem Tierheim), aber auch bei Menschenkindern, durchaus notwendig sein kann. Aber mir fiel auf, dass heute gerade in der progressiven „Hundeszene“, die sich explizit gegen die Hundeerziehung mit Gewalt und Dominanz stellt, kaum Sensibilität bzgl. eines behavioristischen Jargons herrscht. Skinner ist der Vorzeigebehaviorist der 1950er Jahre, er erarbeitete das Konzept der operanten Konditionierung und benannte sie. Er und seine Denkschule sind dafür verantwortlich, dass in den USA die vergleichende Verhaltensforschung, die Wildtiere beobachtete und ihnen Gefühle und Verstand zubilligte, jahrzehntelang nicht Fuß fassen konnte. Skinner und der Behaviorismus sind der Urfeind der Tierschutzbewegung und der Anerkennung von Tieren als fühlende und denkende Wesen überhaupt.

Gerade in der Diskussion mit KantianerInnen, aber auch mit anderen TierfeindInnen, oft auch mit der sogenannten Nutztierwissenschaft und mit jenen WildtierökologInnen, die sich der Jagdpassion verschrieben haben, wird immer und immer wieder auf den Jargon und die Erklärungsmodelle des Behaviorismus zurückgegriffen. Zwar wird anerkannt, dass Tiere leiden (hier: Stress haben) können, aber nicht, dass sie über ihre unmittelbaren Affekte hinaus bewusst und frei zu entscheiden in der Lage sind. Tiere bräuchten keine Freiheit, sie würden nur auf Reize reagieren, und zwar zunächst blind mit Versuch und Irrtum. Bei positiver Verstärkung wird die Reaktion automatisiert, bei negativer Verstärkung nie mehr wiederholt. Findet das Tier keine Reaktion mit positiver Verstärkung setzt Stress ein und das Tier leidet. So reduziert man Tiere auf reine Reiz-Reaktionsmaschinen, in der Sprache der KantianerInnen seien sie zurecht juristisch als Sachen eingestuft, sie seien eben Sachen, die zwar fühlen können, aber rein affektgesteuert agierten.

Doch die Begegnung mit einem anderen Hund ist für einen Hund wesentlich mehr als ein bloßer Reiz. Letztere werden ausschließlich im Kleinhirn verarbeitet, das für die automatisierten Reaktionen zuständig ist. Doch bei einer Hund-Hund Begegnung beginnt das Großhirn zu arbeiten, wie wir aus Magnetresonanzscannern wissen. Der Hund kreiert mentale Bilder. Eines dieser Bilder entsteht mittels Spiegelneuronen, die dem Hund sagen, was das Wesen ihm gegenüber gerade tut und empfindet. Andere wieder handeln davon, ob er diesen Hund kennt, wie alt er ist, welches Geschlecht er hat, wie gefährlich oder beschwichtigend er agiert usw. Ja, das Kleinhirn mag eine Rolle spielen, wesentlich ist aber, dass auch das Großhirn eingeschalten wird, mittels mentaler Bilder die Situation versteht, mittels mentaler Bilder mögliche Handlungsweisen abwägt und dann bewusst entscheidet.

Über das Reiz-Reaktions-„Lernen“ mittels operanter Konditionierung hinaus lernt der Hund hauptsächlich sozial. Das soziale Lernen besteht aus (Whiten et al. 2009, Philosophical Transactions of the Royal Society B, 364: 2417-2428)
•    Facilitation: der Hund lernt von seinen SozialpartnerInnen, unter welchen Umständen welches Verhalten eine gute Vorgangsweise ist
•    Enhancement: der Hund lernt von seinen SozialpartnerInnen, auf welches Objekt oder welchen Ort sich eine Handlung hin orientieren könnte
•    Emulation: der Hund lernt von seinen SozialpartnerInnen, welche Zwecke sich zu verfolgen lohnen
•    Imitation: der Hund schaut sich von seinen SozialpartnerInnen Lösungsmöglichkeiten für Probleme ab, die sich ihm stellen

Ein Beispiel, dem ich in diesen Diskussionen häufig begegne. Wenn ein Hund z.B. einem Reh nachläuft und auf Zuruf nicht zurückkommt, dann solle man, so der Behaviorismus, beim Zurückkommen ein Leckerli geben. Die operante Konditionierung bezieht sich immer auf den letzten Reiz, hier also das Zurückkommen. Da wirkt sie am Stärksten. Falsch sei es, dem zu zeigen, wie man sich ärgert, dann würde sich der Reiz des Zurückkommens mit der negativen Konditionierung koppeln.

Das mag für das Kleinhirn zutreffen. Doch ein Hund hat auch ein Großhirn, übrigens ein deutlich größeres als sein Kleinhirn. Und mit diesem Großhirn kann der Hund ein soziales Geschehen sehr gut verstehen und richtig einordnen. Der Hund versteht, dass er eine soziale Regel gebrochen hat. Natürlich würde ich ihn niemals bestrafen, das würde das Vertrauen zwischen uns zerstören und seine Persönlichkeit brechen. Aber ich zeige ihm ehrlich meine Emotionen: vielleicht große Angst und Verzweiflung, ein Jäger hätte ihn erschießen oder er das Reh verletzen können, oder Ärger, weil er eine Gefahr heraufbeschworen hat. Ein gut sozialisierter Hund wird auch verstehen, dass man unter diesen Umständen nicht glücklich und fröhlich ist, nicht spielen will und ihm gegenüber emotional etwas unterkühlt reagiert: man ist sozusagen angefressen. Je nach Tiefe der Verletzung kann das kürzer oder länger dauern. Auch mein Hund kann auf mich angefressen sein und schmollen. Aber wenn diese Emotionen verflogen sind, dann versöhnen wir uns wieder. Das ist keine Garantie, dass er nicht wieder einmal die sozialen Regeln bricht, aber das Zusammenleben zwischen autonomen Wesen besteht darin, aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich nach Möglichkeit an die gemeinsamen Regeln zu halten und gegebenenfalls soziale Konflikte konstruktiv auszutragen.

3 Gedanken zu “Wenn sich das Großhirn des Hundes einschaltet

  1. “Bei positiver Verstärkung wird die Reaktion automatisiert, bei negativer Verstärkung nie mehr wiederholt”

    Nein. Wenn man schon etwas kritisieren will, dann richtig.
    Positive Verstärkung = Etwas Angenehmes wird hinzugefügt
    Negative Verstärkung: = Etwas Unangenehmes wird entfernt
    Beides dient der VERSTÄRKUNG – Das Verhalten tritt öfter auf.

    Wenn Verhalten vermindert werden soll, setzt man auf Strafe.
    Positive Strafe = Etwas Unangenehmes wird hinzugefügt
    Negative Strafe = Etwas Angenehmes wird entfernt.

    So, das war gerade mal die operante Konditionierung, die klassische gibt es auch noch und die läuft im Hintergrund mit (Emotionen – Unangenhmes lässt den Hund unangenehm fühlen, z.B.)

    Konditionierung ist an sich auch nichts Böses, sondern nur “Lernen”. Auch soziale Lernaspekte werden durch Konditionierung beibehalten oder verworfen. Das passiert auch dir tagtäglich, ohne dass es dir bewusst ist.
    Das soziale Lernen und das Konditionieren greifen ineinander. Sie sind keine Feinde!

    Das Jagdbeispiel finde ich absolut unglücklich. Der Hund ist dabei schon im Hinterhirn, das Jagen macht ihn geradezu blind, er spult sein genetisch fixiertes Verhalten ab (das machena uch Hund, die die Reizschwelle übertreten, sie reagieren einfach nur noch – beim Menschen nicht anders!). Er merkt gar nicht mehr, das du da bist und das Hetzen selbst ist schon belohnend. Genau deswegen kommt man hier mit Strafen oder Belohnungen so einfach nicht weiter.
    Dem Hund ist es scheißegal in dem Moment, wie du dich fühlst, wenn er wirklich im Jagdverhalten ist. Das klingt wenig philosophisch und emotional – obwohl ich eigentlich ein gefühlsbetonter Mensch bin. Ich spreche dem Hund keine Emotionen ab, ich spreche ihm sogar weit mehr Emotionen zu als bereits “bewiesen” ist, aber gerade dieses Beispiel macht deine Argumentation sehr brüchig. Entweder du hattest noch keinen richtigen Jäger vor dir oder du romantisierst, das muss ich so hart ausdrücken.

    Das Brechen der sozialen Regel und das damit verbundene schlechte Gefühl ist übrigens wiederum am Ende Konditionierung.
    Konditionierung hat GAR nichts mit Programmierung und Seelenlosigkeit zu tun.

  2. Interessanter Artikel!
    Ich bin auch so eine positive Verstärkerin, die auch und gerade Hunde bei Hundebegegnungen (und für den Rückruf, und viele andere Dinge) verstärkt.
    Nach meiner Erfahrung ist es oft so, dass Hunde, wenn sie neue Dinge, Menschen, Hunde oder Situationen erleben, erstmal ganz schön “hinterhirnig” sind. Ganz besonders natürlich Welpen, junge Hunde, oder erwachsene Hunde, die, aus welchem Grund auch immer, nur wenige oder schlechte Erfahrungen mit “Neuheiten” gemacht haben.
    Diese Hunde sehe ich dann reflexartig (und emotional) reagieren – meistens mit Verhalten, dass Hundehalter unter “ungewünschtem Verhalten” einsortieren würden (bellen, in die Leine springen, flüchten, aggressives Verhalten…).
    Derzeit habe ich beispielsweise eine Tierschutzhündin im Haus, die deswegen aus der Vermittlung zurückgekommen ist. Durch positive Verstärkung kann man wunderbar das Großhirn sozusagen wieder “anclickern”.
    Mir geht es im Training nicht so sehr um “perfekte Signalausführung” von Sitz, Platz oder was auch immer, sondern genau darum, dass der Hund lernt, sein Großhirn wieder anzuschalten und dann schlaue Entscheidungen (und nicht eins der vier reflexiven Fs 😉 ) treffen zu können. Klar, ein bißchen Sitz, Platz und (ziemlich viel) Komm machen wir auch, aber das geht ziemlich von alleine, wenn das Großhirn denken kann.

    Ich finde es komisch, dass Hundetraining manchmal auf dieses Reiz-Reaktions-Zeug runterreduziert wird (vermutlich, weil leider viele Trainer so arbeiten), aber eigentlich geht positive Verstärkung viel tiefer. 🙂

  3. Das ist m.E. schon richtig so, dass es (mindestens) zu kurz greift, wie es im Übrigen auch am Verhalten der Menschen versucht wurde und wird, positivistisch-psycholigische Erklärungen heranzuziehen, um soziales Verhalten bei Tieren zu beschreiben.
    Behavioristische Erklärungsmodelle bergen vor Allem die Gefahr, Lebewesen als Trivialmaschinen zu beschreiben, wie Herr Balluch in Bezug zum Reiz-Reaktionsschema, hingewiesen hat.
    Jedoch, so meine ich, birgt es ebenso große Gefahr, einem Behaviorismus mit positivistischen Erklärungsmodellen, also anhand einer Großhirn-Kleinhirnunterscheidung, in der Argumnentation entgegenzutreten. Ich meine, dass man hier in dasselbe Fahrwasser gelangt. Harald

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