29. März 2024

Christopher McCandless und das Leben in der Wildnis

Christopher McCandless vor dem Bus in der Wildnis von Alaska
Christopher McCandless vor dem Bus in der Wildnis von Alaska

Jon Krakauers Buch „In die Wildnis“ hat mir Christopher McCandless schon vor vielen Jahren näher gebracht. Jetzt habe ich kürzlich diese sehr empfehlenswerte Rekonstruktion der letzten 2 Jahre des Lebens dieses jungen Mannes wieder gelesen. McCandless möchte sich selbst finden, verbrennt sein gesamtes Geld und verschwindet ohne ein Wort zu sagen aus seiner gut situierten Familie in Virginia, USA, um ein Leben auf der Straße zu führen und Gelegenheitsjobs anzunehmen. Zuletzt wandert er im April 1992 mit lediglich ein paar Kilo Reis als einziger Verpflegung und einem Gewehr den Stampede Trail in die Wildnis von Alaska, um dort dann 113 Tage später an Entkräftung zu sterben. Durch Krakauers Buch wurde McCandless weltbekannt, der Ort seines Todes, ein verlassener Bus in der Wildnis, ist zur Pilgerstätte geworden.

Christopher McCandless am Stampede Trail im April 1992

Das Schicksal dieses getriebenen Mannes bewegt. Aus Krakauers Buch erfährt man, dass McCandless keineswegs naiv in die Wildnis gegangen ist. Er hatte zwar vorsätzlich weder eine Karte der Gegend noch eine Axt oder andere Utensilien dabei, die ich an seiner Stelle mitgenommen hätte, aber wenn jemand 113 Tage in der Wildnis überlebt, dann muss er etwas richtig machen. Doch ganz im Gegensatz zu mir besuchte McCandless die Wildnis nicht ihrer selbst wegen, sondern um sich zu finden, also um mehr über seine Person und nicht über die Natur zu lernen.

McCandless wird als ein Mann beschrieben, der sehr hohe ethische Prinzipien hatte. Aus den Schriften von Tolstoi schloss er, man müsse keusch und ohne Annehmlichkeiten leben, und hielt sich daran. Der Vegetarismus von Tolstoi war ihm dagegen weniger ein Thema, wenn er auch mit dem Gedanken zu kokettieren schien. Doch Henry Thoreaus Plädoyer zur Rückkehr in die Natur inspirierte ihn dazu, Jack Londons Ruf der Wildnis zu folgen und in das unberührte Alaska zu gehen. Und das, so offenbar sein Schluss, ginge nicht als Vegetarier.

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Eines der vielen Selbstauslöser-Fotos, die bei McCandless’ Leiche gefunden wurden

Statt sich mit genügend Nahrung einzudecken, sah er das einfache und naturverbundene Leben darin, zahllose Tiere wie Schneehühner, Eichhörnchen und Stachelschweine zu erschießen und von deren Körpern zu leben. „To live off the land“, wie er es nannte. Doch so wild war seine Wildnis gar nicht. Einerseits benutzte er ja ein Gewehr, also ein Zivilisationsprodukt, und entsprechende Kleidung, ein Zelt und einen Schlafsack. Andererseits wanderte er eine alte Forststraße, den Stampede Trail, nur 30 km weit von der letzten befahrenen Straße entlang und wohnte die meiste Zeit in einem Bus, der dort abgestellt war. Dieser Bus war 1961 zusammen mit anderen Bussen von Arbeitern für den Straßenbau als mobiler Wohnwagen in die Wildnis gezogen worden. Da aber diesem Bus die Achse brach, wurde er stehen gelassen, als die Arbeiter zur nächsten Baustelle weitergingen. McCandless nutzte ihn dann 31 Jahre später als Basislager.

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Das Innere des Busses, in dem McCandless seine letzten Monate verbrachte und starb

Ist es vertretbar, mit Gewehr in die Wildnis zu gehen und dort Tiere zu töten, um sie zu essen? Ist die Selbstfindung Grund genug, eine Blutspur durch die Gemeinschaften von Wildtieren zu ziehen, denen man begegnet? Warum erstreckt sich McCandless‘ so strenge Ethik auf Keuschheit, aber nicht auf Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber anderen Lebewesen mit Bewusstsein? Wie würde er dem Eichhörnchen gegenüber argumentieren, das er vom Baum knallt, dass es sterben muss, weil er keinen Tofu in seinem Rucksack tragen wollte? Tofu ist nicht akzeptabel, weil zu zivilisiert, aber ein Gewehr schon? Sieht man die Bilder an, die McCandless von sich mit seinem Gewehr und mit seinen Jagdopfern aufgenommen hat, dann erkennt man keine Zweifel in seiner Miene. Er strahlt über das ganze Gesicht und fühlt sich offensichtlich sehr gut. Dabei war es der Vegetarier Leo Tolstoi, dessen Bücher ja McCandless in die Wildnis gebracht hatten, der an anderer Stelle erkannte: Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.

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Die unfassbar schöne Tundra mit Blick auf den Denali National Park vom Stampede Trail aus. So sah McCandless die Umgebung seines Busses.

McCandless hätte sein Wildnisabenteuer um ein Haar überlebt. Vielleicht hätte er dann zum Vegetarismus gefunden. Nur drei kleine Fehler addierten sich zur Tragödie. Bei seinem ersten Versuch, wieder zur Straße zu gelangen, gab er an einem reißenden Fluss auf, anstelle etwas flussaufwärts eine Furt zu suchen. So blieb er länger als geplant auf sich gestellt. Als er einen Elch erschossen hatte, gelang es ihm nicht, dessen Fleisch haltbar zu machen, obwohl es dazu Möglichkeiten gegeben hätte. In kürzester Zeit war der Kadaver von Fliegenmaden übersät und ungenießbar, anstatt für Wochen Nahrung zu liefern. Und, drittens, aß er die Samen von Wildkartoffeln, die laut dem Autor des Buches über McCandless‘ Tod, Jon Krakauer, unverträglich seien und damit zu seiner körperlichen Schwäche, die sich durch die geringe Kalorienaufnahme über Monate eingestellt hatte, beitrugen. Letztlich verhungerte McCandless in seinem Bus.

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Der Blick auf den Bus aus der Luft

 

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Die letzte Botschaft, die McCandless an den Bus anbrachte, um Wanderer, die zufällig vorbeikommen sollten, zu alarmieren. 2 Wochen nachdem er gestorben war, wurde er erst gefunden.
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Das letzte Selbstauslöserbild vor seinem Tod, 33 kg schwer. Ein Gruß an die Menschheit auf dem Papier, das er in der Hand hält: “I have had a happy life and thank the Lord, Goodbye and may God bless all”

 

8 Gedanken zu “Christopher McCandless und das Leben in der Wildnis

  1. Mit zwei jahren Verspätung auch nochmal meine Ansicht, mal abwarten ob der Eintrag freigeschaltet wird 😛
    Ohne lange auf einzelne Punkte eingehen zu wollen – Ich finde den Artikel anmaßend.
    McCandless erhält also keine Absolution von Ihnen und taugt nicht als Vorbild für einen guten Vegetarier oder was soll das? Seine Fragen waren von anderer Art und es ist falsch jemandem der solch ein extremes Experiment lebt auch noch die eigene Lebensideologie diktieren zu wollen.

    Außerdem gibt es meiner Meinung nach ein vollständig verklärtes Bild der Natur, jedes Tier kämpft tagtäglich ums Überleben und McCandless ist der Natur doch von der Tendenz her deutlich mehr auf Augenhöhe begegnet als der normalsterbliche Zivilisationsbürger, ob vegetarier oder nicht. Ein Leben von und mit den Tieren schafft doch erst ein Bewusstsein zur Erhaltung und die Jagd zum Überleben in der Wildnis ist doch letztendlich ein nobler Gedanke.

    In der Realität führen extreme Forerungen und Haarspalterei zu nichts. Die Welt besteht aus Kompromissen.

    1. Danke Jim, hätte ich selber nicht besser sagen können! Dogmen, egal welcher Art, bringen uns nicht weiter. Ich lese gerade das Krakauer-Buch und staune. Der junge Chris war offenbar jemand, der viele Menschen auf seinem Wege nachhaltig berührt hatte. Ob er letztenendes naiv, depressiv oder was wohl die Gründe für sein Aussteigertum sein mögen, bleibt die Tatsache, dass er keinem was zuleide getan hat – wenn man von Nahrungsaufnahme absieht, welche ihm hier anscheinend auch noch abgesprochen wird, was ich zynisch finde. Richtet nicht, damit über Euch nicht gerichtet wird, heisst es doch.

  2. Sorry, falls mein obiger Kommentar etwas zusammenhangslos wirkt. Die Assoziation von McCandless mit Kaczynski hat bei mir eher persoenliche Hintergruende.

    Aber davon abgesehen, denke ich schon , dass es einige Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen den zweien gibt. Beide waren starke Einzelgaenger, hochintelligent, Kritiker des neuzeitlichen “American way of life”, fuehlten sich zur Wildnis hingezogen (Kaczynski lebte bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1996 ca. 25 Jahre lang ohne Strom und Wasseranschluss allein in einer kleinen Huette in einer abgelegenen Gegend Montanas) … und beide jagten und aßen das eigenhaendig erlegte Wild.

    Inwieweit sich McCandless tatsaechlich mit Fragen des Vegetarismus auseinandergesetzt hat, kann ich nicht wirklich beurteilen. Konsequenzen scheint er aus einer solchen Auseinandersetzung ggfs. nicht gezogen zu haben. Jedenfalls hat er kurz bevor er nach Alaska gegangen ist noch bei MacDonalds gearbeitet und dort Burger gebraten, sich von Herrn “Franz” zu Lobster und Steak (wahrscheinlich nicht aus einem Bio-Hof) einladen lassen, und sich noch die letzten Monate und Wochen seines Lebens großteils von selbst geschossenen Eichhoernchen, Stachelschweinen, Schneehuehnern und aehnlichem ernaehrt.

    Deinen Kommentar interpretiere ich so, dass sich Kaczynski – im Gegensatz zu McCandless – nicht mit ethischen Fragen auseinandergesetzt hat. Das wuerde ich entschieden verneinen. Im Gegenteil glaube ich sogar, dass sich Kaczynski um einiges intensiver und mehr mit ethischen Fragen beschaeftigt hat als McCandless. Wie sehr dabei Tierrechte und Vegetarismus eine Rolle gespielt haben, kann ich genauso wie bei McCandless schlecht beurteilen. Es waere in dem Zusammenhang sicher interessant, die 40.000 unveroeffentlichten Seiten von Kaczynskis Tagebuechern zu lesen.

    Auch wenn sich manche seiner Ansichten und Schlussfolgerungen nicht mit den meinen decken und ich seine Anschlaege vollkomen verurteile, kann ich die Lektuere seines Manifestos “Industrial Society and Its Future” jedenfalls nur empfehlen:

    http://editions-hache.com/essais/pdf/kaczynski2.pdf

    Auch die von ihm verfasste Parabel “Ship of Fools” (in der es ganz am Rande auch um Tierrechte geht) ist lesenswert:

    http://www.sacredfools.org/crimescene/casefiles/s2/shipoffoolsstory.htm

  3. McCandless wollte den Mythos leben, den er unter anderem in den Büchern von Jack London kennengelernt hatte, und da lag das Bild des Jägers oder Trappers in Alaska sicher näher als das eines Vegetariers.
    Es war ihm durchaus bewusst, dass Natur auch hart und unerbittlich ist, und vielleicht rechtfertigte er so seine Grausamkeit gegenüber Tieren.
    Da er ja in die Wildnis wollte, sah er sich vielleicht als Teil des Kreislaufs der Natur, in dem Tiere jagen und gejagt werden, und bezog seine Legitimierung daraus.
    Und vermutlich erschien ihm die Jagd “natürlicher” als Essen zu kaufen, was er zwar tat, aber er wollte eben vom Land leben. Andererseits hat er natürlich für Munition schon Geld ausgegeben…
    Inwieweit man in der Wildnis Alaskas je nach Jahreszeit von Pflanzen leben kann, vermag ich nicht zu beurteilen.

    So sehr ich ihn mag, aber er erscheint mir auch teilweise gefühlskalt oder egozentrisch, etwa weil er sich nie bei seiner Familie gemeldet hat und sogar seine Schwester, die er im Gegensatz zu seinen Eltern liebte, im Ungewissen über seinen Verbleib ließ.

  4. Äh, Ted Kaczynski? Und der Zusammenhang ist?

    Im Fall McCandless geht es um einen jungen Mann, der sich intensiv mit Ethik und auch mit der Frage des Vegetarismus auseinandersetzt und es dann für den richtigen Weg hält, ohne Tofu aber mit Gewehr in die Wildnis zu gehen, dort Tiere abzuschießen und diese zu essen. Ich wollte diese Schlussfolgerung in Frage stellen, insbesondere als eine Person, die sich ebenfalls intensiv mit Ehtik auseinandersetzt und auch in die Wildnis geht – aber eben mit Tofu und ohne Gewehr.

  5. Jetzt vielleicht noch etwas über Ted Kaczynski – ebenfalls ein Liebhaber der Wildnis und großer Mathematiker vor dem Herrn, der aber leider nicht den Weg zum Vegetarismus oder gar Veganismus gefunden hat?

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