22. Dezember 2024

Hunde und Kinder

Der anglikanische Theologe Andrew Linzey benutzt den Vergleich von Hunden (allgemeiner: Haus- und Nutztieren) mit Kindern, um sein Plädoyer für einen ethischen Umgang mit Tieren plausibel zu machen. Wie mit Kindern sollen wir unsere eigenen Bedürfnisse auch gegenüber Tieren zurückstellen und für sie sorgen. Dieses Bild gefällt mir und ich kann es nachvollziehen.

Hunde und Kinder sind beide von uns abhängig und jedenfalls in dieser Gesellschaft nicht zu einem vollständig eigenständigen Leben fähig. Dabei können Hunde viel früher als Kinder eine ziemlich weitgehende Unabhängigkeit erreichen und sind auch wehrhafter. Dafür ist es wahrscheinlich leichter möglich, Kindern abstrakte Denkinhalte zu vermitteln, zumindest wenn sie bereits sprechen können. Aber für mich zentral ist hier die Beobachtung, dass Hunde wie Kinder ein Bewusstsein haben, d.h. in der Lage sind, subjektiv etwas zu empfinden.

Da sich Bewusstsein evolutionär entwickelt hat, muss es in irgendeiner Form Auswirkungen auf das Verhalten des Wesens mit Bewusstsein haben. Diese bewussten Entscheidungen, die das Verhalten beeinflussen, nenne ich Autonomie. Hunde und Kinder können also beide eine eigenständige Persönlichkeit und eine Autonomie entwickeln. Als erwachsene Menschen sollte daher unser Umgang mit Hunden und Kindern zum Ziel haben, diesen uns anvertrauten Wesen zu helfen, ihre Persönlichkeit und ihre Autonomie, unter den gegebenen Umständen und unter Berücksichtigung der Rechte anderer, maximal zu entfalten.

Die alte Schule der Verhaltensbiologie von Konrad Lorenz sieht den Antrieb für Handlungen in fix verschalteten Systemen von Nervenzellen mit starr programmierten Abläufen. Das beginnt bei der Prägung und reicht über Instinkthandlungen bis zu Triebstau für Aggression, Dominanz und Sexualität.

Der Behaviorismus von Skinner und Pawlow Mitte des 20. Jahrhunderts dagegen führt den Antrieb für Handlungen auf Konditionierung zurück. Eine Reaktion auf einen Reiz wird neuronal mit einem positiven oder negativen Erlebnis assoziiert, und entsprechend im Gehirn fixiert. Das Nervensystem ist in diesem Bild immer noch fix verschaltet, aber mit einer lernfähigen Computersoftware programmiert.

Beide diese Modelle kommen, wie Computer, völlig ohne Bewusstsein aus. Es bedarf keines bewusst erlebten Schmerzes oder Lustgefühls z.B., um konditioniert zu werden. Beide Modelle benötigen auch keine Plastizität des Gehirns, also jenes mit Bewusstsein einhergehende Phänomen der dynamischen Bildung und Auflösung von Synapsen zwischen den Nervenzellen. Die bewusste Entscheidung und die individuelle Persönlichkeit gehen offensichtlich über bloße Instinkthandlung und Konditionierung hinaus.

AnhängerInnen des Triebstaumodells meinen, man müsse Hunde dominieren, um ihr angeblich angeborenes Bedürfnis, Alphatier zu werden, in den Griff zu bekommen. Sie werden mit Gewalt unterworfen. BehavioristInnen moderner Prägung kommen ohne negative Konditionierung aus, sie bestärken also nur mehr positiv und gewaltfrei, sehen aber im Hund eine reine Konditionierungsmaschine, die es nach den eigenen Bedürfnissen möglichst pflegeleicht umzumodeln gilt. Der Hund erlebt sozusagen eine Gehirnwäsche.

Ich plädiere dafür, im Hund ein autonomes Wesen zu sehen, mit dem wir echt, d.h. in beide Richtungen, kommunizieren können. Als soziale Tiere sind Hunde sehr gut in der Lage, die Kommunikationskanäle ihrer Mitmenschen zu erfassen, genauso wie wir unsere Hunde sehr gut auf ihre Weise verstehen können, wenn wir uns auf sie einlassen. In der Kommunikation mit meinem Hund sind zwar abstrakte Inhalte kaum zu vermitteln, sehr wohl aber Emotionen und Stimmungen. Wenn ich meinem Hund also meine Gefühle mitteile, meine Angst, meine Trauer, meine Wut, meine Verzweiflung, meine Liebe, meinen Respekt und meine Bedürfnisse, und gleichzeitig auf seine höre, dann wird er sich zu einem sozial kompetenten Lebewesen entwickeln, das in der Lage ist, im komplexen Netz sozialer Interaktion Freiräume für seine eigene Persönlichkeit und seine Autonomie zu finden. Mit Hunden und Kindern muss unser Ziel sein, ihnen zu helfen, zu Wesen mit möglichst viel Selbstwert, Selbstvertrauen und Eigenständigkeit zu werden.

Bei meinem Vortrag zu diesem Thema am Tierrechtskongress saß ein sehr aggressiver Mann in der ersten Reihe, der, wie ich jetzt weiß, aus dem politisch rechten Milieu stammt und sich entsprechend laut und dominant zu Wort meldete. Wie, war seine Frage, würde ich vorschlagen mit einem Hund umzugehen, der einfach auf den Esstisch springt? Seine Antwort war offensichtlich: ihm durch Gewalt beibringen, so etwas aus Angst vor Strafe nie wieder zu tun. Wie würde dieser Mann mit einem Kind umgehen, das auf den Tisch klettert? Vermutlich ebenso zum Mittel der „gsunden Watschen“ greifen. Das ist genau diese Perpetuierung von Gewalt, die zu bissigen Hunden und gewalttätigen Jugendlichen führt.

Ich wünsche mir keine Gemeinschaft, in der meine Hunde und Kinder aus Angst vor Strafe gewisse Dinge nicht tun. Ich wünsche mir, dass sie meine Bedürfnisse kennen und aus freien Stücken respektieren, und sich gleichzeitig meines Respekts und meiner Liebe sicher sein können, egal für welchen Weg sie sich eigenständig entscheiden. Ich befehle meinen Hunden nichts, ich bitte sie manchmal, etwas zu tun, und bedanke mich, wenn sie es getan haben.

9 Gedanken zu “Hunde und Kinder

  1. Das Erziehen zu Autonomie ist etwas ganze Anderes, als Hunde (oder Kinder) verwahrlosen zu lassen. Ich denke sogar, dass verwahrloste Hunde, die frei herumlaufen, u.U. deshalb bissig werden können, genauso wie verwahrloste Kinder destruktiv. Hunde und Kinder sollten in ein liebendes Umfeld eingebettet werden, das sie sozial integriert und in dem sie sowohl respektiert werden, als auch zu respektieren lernen.

  2. Ich denke auch, dass gegen Erziehung nichts einzuwenden ist (weder bei Kindern noch bei Hunden). Allerdings darf Erziehung nicht mit Dressur verwechselt werden!!! Das allerdings passiert häufig. Menschen denken, wenn der Hund “sitz” und “platz” kann ist er erzogen. Falsch gedacht! Es geht vielmehr darum die Beziehung zwischen dem Hund und mir zu definieren. Es muss ein Rahmen gesteckt werden, in dem man sich bewegt. Hunde und Kinder brauchen sowohl Autonomie als auch Grenzen. Aber auch ich, als Mensch, muss mich in dem Umgang mit meinem Hund an gewissen Grenzen orientieren, zum Beispiel wenn es darum geht, die Würde meines Hundes und seine Bedürfnisse in jedem Moment zu respektieren. Natürlich gibt es Situationen, wo ich eine Entscheidung gegen den Willen des Hundes treffen muss (z. B. Wenn Hund über die Straße laufen will, obowhl ein Auto daher kommt.), aber das muss ich bei Kindern auch (z. B. Wenn Kind über die Straße laufen will, obowhl ein Auto daher kommt.).

    Eine Beziehung zu einem Hund sollte freundschaftlich sein. Ich persönlich will kein dressiertes, hirnloses Wesen ohne eigenen Willen neben mir hertrotten haben.

  3. @hans black:
    Deshalb mein Vergleich Hunde und Kinder: wie gehe ich mit einem Kind um, das Verhaltensauffälligkeiten zeigt? Einschläfern ist jedenfalls keine Option – und im Übrigen sowohl bzgl. Hunden als auch Kindern illegal.
    Ich denke, dass Hunde und Kinder, wenn sie von Anfang an in einem sozialen Umfeld aufwachsen, das ihnen freundlich begegnet, sie respektiert, sich für sie interessiert und ihnen möglichst viel Autonomie bietet, nicht in diesem Sinn verhaltensauffällig werden.
    Hunde aus dem Tierheim sind natürlich schon manchmal verhaltensauffällig und aggressiv – obwohl bei weitem nicht alle, wie gesagt, meine Hunde sind alle aus dem Tierheim und die Freundlichkeit in Person.
    Bei Problemen dieser Art, die auf eine problematische Vergangenheit zurückzuführen sind, kann eine Verhaltenstherapie mittels Konditionierung natürlich gerechtfertigt sein. Auch Menschen werden u.U. verhaltenstherapiert.

  4. Ich weiß nicht, ob du das schon kennst?! Weiß leider auch nicht, wieviel wissenschaftliche Qualität es hat.

    “Moskaus Metro hat nicht zahlende Passagiere – Street Dogs 🙂

    Moskaus streunende Hunde gehen in die Innenstadt während des Tages. Am Ende der Arbeitszeit der Menschen gehen sie in die Vororte zum Schlafen, dazu fahren sie U-Bahn! Sie nutzen die U-Bahn bis zu den Vororten. Experten versuchten, dieses Verhalten zu analysieren.
    Die Ergebnisse dieser Untersuchungen überraschten am Ende sehr!

    “Wir haben festgestellt, dass die Hunde es richtig üben, zur U-Bahn Haltestelle zu kommen. Sie unterrichten sich gegenseitig, wann sie gehen und wann sie bleiben müssen. Die U-Bahn ist für sie die beste Möglichkeit auf der Suche nach Nahrung in der Innenstadt … Ich musste lernen, mit diesen Hunden in die Innenstadt und in die Vororte in ihre Regionen zu gehen.

    Das Ergebnis war: sie gehen in den frühen Morgenstunden, nehmen die U-Bahn Stadtmitte, zur Spätschicht nehmen sie die U-Bahn wieder zurück. Sie kennen genau ihren Stop, egal, wieviel Menschen ein- oder aussteigen! Bei der Überprüfung sahen wir streunende Hunden, dass sie auch die Ampeln beachteten. ”

    Dr. Andrei Poiarkov”

    Foto: http://www.facebook.com/photo.php?fbid=3355457040116&set=a.1662725722891.2082894.1079653323&type=1&theater

  5. wie gehst du mit einem hund um, der sich in einer art verhält, die schwer zu aktzeptieren ist? wie schnappen, beißen?
    bleibt dann nur noch der “schmerzlose” tod? oder kann “dein” hunde-modell hier auch etwas *positives* beisteuern?

  6. Vielen Dank für Eure Kommentare. Es gibt viele Menschen, sogar unter TierrechtlerInnen, die Autonomie und eigenständige Entscheidungen bei Hunden für unmöglich halten. Ich lebe seit Jahrzehnten mit Hunden zusammen und erlebe sie eben ganz anders.

  7. Toller Text! 🙂

    Ja, bei manchen Erziehungsmaßnahmen (Hund oder Kind) kann man tatsächlich nur von Gehirnwäsche sprechen. Den Tieren und den Kindern wird oftmals zuwenig zugetraut und man selbst agiert daher übervorsichtig und macht sie zu Idioten. Ich erlebe im Hunde- aber auch im Pferdetraining, dass manche Menschen offenbar glauben, sie arbeiten mit grenzdebilen Lebewesen zusammen. Dass diese allerdings in der Lage sind ihre eigenen Entscheidungen zu treffen (natürlich im Rahmen) und sehr wohl aus den Konsequenzen lernen können, ist ihnen nicht klar. Bei den Pferden geht es sogar manchmal soweit, dass die Menschen Angst haben, ihr Tier würde sich auf der Weide überschlagen, weil dort ein paar Steine rumliegen. Ich weiß ja nicht, aber ein Flucht- und Steppentier, das Jahrhunderte überlebt hat, WEIL es schnell ist und seine Beine heben kann, wird wohl in der Lage sein einem Stein auszuweichen?!?!
    Zum Thema Hund kann ich sagen, der Hund, der bei mir lebt ist ein ehemaliger Streuner aus Bulgarien und ist im Alter von 5 Jahren zu mir gekommen. Bei ihm merkt man ganz deutlich, dass er sehr selbstständig ist – musst er ja sein. Er kann sich selbst beschäftigen und hat vor allem anfangs versucht, Situationen zu lösen ohne meinen “Rat” einzuholen. Im Laufe der Zeit, haben sich natürlich eine Bindung und Vertrauen aufgebaut und jetzt beginnt er, sich mehr an mir zu orientieren. Ich kann leider (oder glücklicherweise?) nicht sagen, was genau er in seinem Leben bislang mitgemacht hat, aber was auch immer ihm passiert ist, hat er gemeistert. Wenn man ihn so beobachtet hat man den Eindruck er kennt sich selbst sehr genau (klingt jetzt vielleicht etwas komisch). Er hat sich für sein Leben gewisse Verhaltensweisen und Methoden zurecht gelegt mit denen er offensichtlich gut durchgekommen ist und es noch tut 😉

    Abschließend: Wenn man aufhört Tiere ständig dressieren zu wollen und ihnen stattdessen einfach mal zuhört und sie beobachtet, lernt man immens viel…vor allem über sich selbst!

  8. Meiner Meinung nach verdient Leben in jeder Form Respekt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mit Hunden (und auch anderen Tieren) außerdem wunderbar kommunizieren kann. Das funktioniert mit Körpersprache. Ein Lächeln, ein Schwanzwedeln, die Hand gibt die Richtung vor, der Hund folgt der Hand, usw. Ich erkenne ganz eindeutig Fürsorge, Freundschaft, Begeisterung, usw. Die Hunde sind noch besser darin, meine Körpersprache und sogar meine Mimik zu verstehen.
    Der Text spricht mir aus der Seele: Hunde sind so lernwillig, wenn man liebevoll und positiv mit ihnen umgeht.

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