19. März 2024

Ziviler Ungehorsam im Dritten Reich? – „Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten“

Ziviler Ungehorsam ist ein ganz wesentliches Mittel des Widerstands der Ohnmächtigen und der außerparlamentarischen politischen Kampagnenarbeit in einer Demokratie. Als ich mich in den 1970er und 1980er Jahre für Umwelt- und Tierschutz zu engagieren begann, war ziviler Ungehorsam bei uns hier gerade im Entstehen. Der Spirit der „Alternativbewegung“ hat sich daraus genährt. Es war ein Teil des politischen Selbstverständnisses, offen Gesetze zu brechen und der Staatsmacht dabei in die Augen zu schauen. Eigentlich hatte ich damals gedacht, dass das der neue Politstil wird, im Fahrwasser von Martin Luther King und der 1968er Bewegung, und dass Demokratie in den 2000er Jahren dadurch definiert sein wird. Doch irgendwie stimmt das nicht. Es gibt einen Backlash, erschreckender Weise. Ziviler Ungehorsam wird immer mehr skandalisiert und als radikal verfolgt. Der Staat, insbesondere der Überwachungsstaat, versucht mit scharfer Repression Zivilen Ungehorsam zu verunmöglichen. Und eine neue Generation einer politisch angepassten Jugend, so meine Wahrnehmung, lässt sich davon beeindrucken.


Und dann lese ich von Kurt Gerstein. Er war Aktivist in der evangelischen Jugend in Deutschland in den 1930er Jahren. Und als Hitler an die Macht kam und die Hitlerjugend ein Theaterstück aufführte, das in seinen Augen gotteslästerlich war, Schritt er zur Tat. Etwa 30 AktivistInnen setzten sich in eine der ersten Reihen und nachdem das Stück begonnen hatte, schrien und trampelten sie, bis die Aufführung abgebrochen werden musste. Die AktivistInnen scheinen ohne größere Probleme entkommen zu sein. Doch am selben Abend gab es noch eine weitere Vorführung. Zu dieser ging Kurt Gerstein alleine. Als die in seinen Augen gotteslästerlichen Zeilen gesprochen wurden, stand er  in der ersten Reihe auf und deponierte lautstark seinen Protest. Ganz allein, in Nazideutschland, gegen eine Theateraufführung der HJ! Hat man so etwas schon gehört? Er wurde übrigens auch da nicht verhaftet, aber von der HJ schwer verprügelt.

Der bekannte Historiker Saul Friedländer zeichnet in seinem Buch „Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten“ die Geschichte dieses bemerkenswerten Mannes nach. Aus einem sehr rechtskonservativen und auch antisemitischen Elternhaus stammend, schloss sich Kurt Gerstein bald der evangelischen Kirche an. Während sein Vater als alter preussischer Offizier die Machtübernahme der Nazis begrüßt, engagiert sich Sohn Kurt in der evangelischen Jugend, die zunehmend in Gegensatz zu den Nazis gerät. Nach den genannten Aktionen des Zivilen Ungehorsams wird er schließlich von der Gestapo verhaftet, weil er auf seine eigenen Kosten kritische Pamphlete und Flugblätter verschickt hat. Was bei den Geschwistern Scholl nur 6 Jahre später zur Todesstrafe führt, mündet bei Gerstein „lediglich“ in mehrmonatige Haft. Kurz darauf wird er noch einmal festgenommen und verbringt einige Monate in einem Konzentrationslager. Die Erfahrungen dort, so sagt er, erschüttern ihn so sehr, dass er zwar weiterhin Widerstand leistet, aber diesen nun in den Nationalsozialismus hinein verlagert.

Daher der Untertitel, Zwiespältigkeit des Guten, weil Gerstein sogar der SS beitritt. Er tut das, gibt er glaubhaft seinen Freunden gegenüber an, um Informationen von höchster Ebene verbreiten zu können und Nazi-Aktivitäten zu sabotieren. Anlass war der Umstand, dass eine nahe Verwandte von ihm als „lebensunwertes Leben“ aufgrund ihrer Behinderung im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nazis vergast wird. Als SS-Mann wird er Spezialist für Ungeziefervertilgungsmittel wie Zyklon B, und man ermöglicht ihm Führungen durch die Todeslager in Ostpolen wie Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka. Er sieht mit eigenen Augen, wie dort jüdische Menschen jeden Alters und jeden Geschlechts vergast werden. Unmittelbar danach informiert er darüber, wen er informieren kann, dazu gehört die schwedische Regierung genauso wie offizielle Stellen in London, aber auch Privatpersonen. Zwiespältig ist seine Rolle aber deshalb, weil er tatsächlich auch Zyklon B liefern muss. Zwar betont er später, dass er das meiste davon irgendwie aus dem Weg geräumt habe, aber möglich ist dennoch, dass Zyklon B aus den von ihm bestellten Lieferungen zur Vergasung von Menschen verwendet worden ist. Allerdings nur in Auschwitz, in den ostpolnischen Vernichtungslagern blieb man u.a. aufgrund seiner negativen Berichte über Zyklon B bei Dieselmotorabgasen.

Bis zuletzt fliegt Gerstein nicht auf, obwohl er sich immer mehr exponiert. Doch ganz offensichtlich traumatisiert ihn das Erlebte schwer. Nach Kriegsende wird er in Frankreich eingesperrt. Man will ihm als Kriegsverbrecher den Prozess machen. Unter diesen Umständen wählt er in seiner Zelle den Freitod. Tragisch, ist er doch eigentlich auf der anderen Seite gestanden. Deutsche Gerichte halten ihn dennoch anfänglich für schuldig. Posthum wird argumentiert, sein Widerstand habe keine Konsequenzen gehabt und deshalb müsse seine Mitgliedschaft in der SS alles in allem negativ gewertet werden. Ein seltsames Argument. Wären alle oder auch nur viele so gewesen wie Kurt Gerstein, hätte das Dritte Reich niemals funktionieren können. Erst in den 1960er Jahren wird er schließlich rehabilitiert.

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