16. November 2024

4 Wochen zelten in 8 Urwäldern

Urwald. Was für ein Wort! Urig, uralt, ohne menschlichen Einfluss. Und das ist es, was ich suche: eine Natur ohne menschlichen Einfluss. Ich möchte das Ursprüngliche, Echte erleben. Ich möchte eintauchen in eine Natur, wie sie vor dem Menschen existiert hat. Ich möchte respektvoll und vorsichtig, ohne eine Spur zu hinterlassen, durch die Welt der Vorzeit streifen, mit Bären, Wölfen, Luchsen, Bisons und, warum nicht, auch mit Auerochsen.

Gibt es das denn noch in Europa? In Österreich gibt es Urwälder, sogar ziemlich viele, aber nur relativ kleine. Obiges Bild ist in einem dieser Urwälder ganz nahe von dort, wo ich in einem Blockhaus im Wald lebe, aufgenommen. Die Tanne rechts ist gewaltig. Ich besuche sie so oft ich kann. Naja, nur Wolf, Luchs, Bär und Bison findet man bei uns (noch?) nicht. In erster Linie, weil eine engstirnige, naturferne Clique völlig rechtswidrig alle Tiere abballert, die ihr nicht passen. So werden die wenigen Luchse regelmäßig dezimiert, aber es gibt sie, auch bei mir. Und Bären gab es auch, ich bin in Österreich einem wilden Bären begegnet! Und, nein, Angst hatte ich selbstredend keine. Es war eines der schönsten Erlebnisse meines Lebens. Aber auch die über 30 Bären, die bei mir in der Region gelebt haben, wurden bis 2008 systematisch ausgerottet. Und jetzt versucht der Wolf ein Comeback, aber die Hinterwäldler bei uns haben das Kommando.

Also muss ich raus in die Karpaten. So weit weg sind die gar nicht. Von Wien aus kann man sie sogar sehen. Die slowakischen Karpaten mit allen großen Beutegreifern sind 350 km entfernt, die Beskiden mit wildlebenden Bisons noch einmal 150 km mehr und die rumänischen Südkarpaten kann man von Wien aus in 600 km erreichen. In der heutigen Zeit ein Katzensprung. Ich war im heurigen Sommer zum 10. Mal dort! Vielleicht erlebe ich noch, dass die großen Beutegreifer in Österreich zurück gekommen sind!

Heuer wollte ich mit meinen beiden Kindern (3 und 6 Jahre alt) Urwälder in den Karpaten besuchen. Ich wollte mit ihnen in dieser urigen, ursprünglichen Natur zelten, wochenlang die Atmosphäre dieser Urwaldriesen aufsaugen, und dabei auch die Spuren von Wolf, Bär, Luchs und Bison entdecken. Und es ist gelungen.

In der Slowakei sind 261 (!) Urwälder, oder eher Urwaldreste, registriert und IUCN geschützt. Ich würde mir wünschen in Österreich wären wir auch soweit, unsere Urwaldreste zu kartografieren und explizit unter absoluten Schutz zu stellen. Ich könnte dabei mithelfen, in meiner Gegend kenne ich ein Dutzend und mehr. Während die österreichischen Urwälder ein Geheimnis für Insider bleiben, kann man die Urwälder in der Slowakei online finden und sogar auf der Wanderkarte studieren. Entsprechend habe ich eine Route zusammengestellt, sodass wir in den 4 Wochen mit dem Zelt in letztlich 8 Urwäldern gewesen sind.

Smrekovica Urwald, Velka Fatra

Unser erstes Ziel war die Velka Fatra südlich der Tatra in der Slowakei. Ein ausgedehntes Wandergebiet mit vielen Wegen und Hütten – aber gleichzeitig mit Wolf, Bär und Luchs ohne nennenswerte Konflikte. Wir haben uns einen Fichtenurwald auf 1400 m Seehöhe zum Besuch ausgesucht. Die Bäume waren erstaunlich dünn, wie in Skandinavien. Die Seehöhe erklärt das nicht, in Österreich kenne ich gewaltige Fichten auf 1500 m und 1600 m. Einen Hinweis geben die hohen Heidelbeersträucher. Sie zeigen einen sehr nährstoffarmen Boden an. Daher also die dünnen Bäume. Totholz gab es trotzdem viel, aber weil die umgefallenen Stämme in den Heidelbeersträuchern verschwinden, waren sie fast nicht zu sehen, bis man drüber stolpert. Die Nächte im Wald waren stockdunkel.

Jalovecka Tal, Hohe Tatra

Als nächstes begaben wir uns in die Hohe Tatra. Sie ist – trotz oder auch wegen Bären, Wölfen und Luchsen, die dort leben – ein von vielen Tourist:innen besuchtes Gebirge. Die Karpaten erreichen hier ihre größte Höhe. Und dennoch gibt es wilde Flecken Natur. Das Jalovecka Tal wurde bis 1958 forstwirtschaftlich genutzt. Doch in diesem Jahr hat ein Hochwasser die Straße fortgeschwemmt und im Kommunismus wurde sie nicht erneuert. Der Wald konnte sich also erholen und wieder einem Urwald annähern. Als die Regierung im Jahr 2016 eine neue Forststraße bauen wollte, hat die Bevölkerung protestiert und erreicht, dass das Tal vollständig außer Nutzung gestellt wurde. Man kann also nicht hineinfahren, was so viel bedeutet, dass dort auch keine Jagd mehr stattfindet. Und zwar seit gut 70 Jahren!

Das Jalovecka Tal hat eine Fläche von 9.000 ha und ist gut 20 km lang bevor es auf 1500 m in einen Kamm mündet. Der Wald wird aus der Zeit der forstlichen Nutzung noch von Fichten dominiert. Doch das Gefühl in einer doch so lange schon von Menschen unberührten Natur zu verweilen war großartig. Bis einmal in der Früh maximal 100 m von unserem Zelt entfernt der Blitz in einen Baum einschlug. Ein Erlebnis, das uns die Urgewalt der Natur vor Augen geführt hat. Aber das gehört eben auch dazu, wenn man sich in eine ursprüngliche Landschaft begibt!

Rozok Urwald, Beskiden

Von der Hohen Tatra fuhren wir 150 km nach Osten bis an die Grenze zur Ukraine. Dort befindet sich der Poloniny Nationalpark, der mich wirklich begeistert hat. Eine riesengroße Waldfläche mit 10 Urwäldern und ganz wenig Tourismus! Die slowakische Bevölkerung dort ist christlich orthodox, man hat fast das Gefühl, nicht mehr in der Slowakei zu sein. In diesem Nationalpark wurden auch Bisons ausgesetzt. Leider haben wir keine getroffen, aber immerhin sind wir auf Pfotenabdrücke von Bären und Wölfen gestoßen und eine Ringelnatter hat unseren Weg gekreuzt.

Wir waren im Rozok Urwald, dem mit 67 ha kleinsten des Nationalparks. Er liegt direkt an der Grenze zur Ukraine. Es handelt sich um einen Rotbuchenurwald. Nur vereinzelt findet man andere Baumarten wie Weißbuche, Bergahorn oder Birke. Die Seehöhe ist 500 m – 800 m. Großartig war der Jungwuchs. Hier mit Wölfen als Apex Predatoren gibt es eine wunderbare Naturverjüngung, wie man sie in Österreich praktisch nirgends findet. Das Ökosystem wirkt komplett und intakt – völlig ohne menschlichen Einfluss. Ja, das funktioniert nicht nur gut, sondern wesentlich besser, als wenn sich der Mensch einmischt.

Doch was in einem Urwald wirklich gefährlich ist, haben wir hier erlebt. Spät abends, es war stockdunkel und wir befanden uns bereits im Zelt, fiel plötzlich ein Baum in unmittelbarer Nähe um. Ein ziemlicher Schock. Jared Diamond hat vor Jahrzehnten die indigene Bevölkerung von Borneo untersucht, die ausschließlich im Urwald lebt, und dabei festgestellt, dass 8 % der Todesfälle auf umstürzende Bäume zurückzuführen waren. Ja, im Urwald stehen eben sehr viele tote Bäume, die jederzeit plötzlich umfallen können. Den Zeltplatz sollte man sorgfältig aussuchen.

Zu diesem Urwald gibt es auch einige Informationstafeln in den nächstgelegenen Orten. Da wird stolz erklärt, dass hier Wolf, Bär und Bison leben. Und dann steht da groß ein Spruch, der gerade auch uns in Österreich zu denken geben sollte:

Entgegen dem ewigen Gelaber von großartiger Kulturlandschaft, die als Ausrede herhalten soll, keine Wildtiere leben zu lassen, die dem Menschen nicht nützen, hat man sich in der Slowakei zur Erkenntnis durchgerungen, dass die Rückkehr zum natürlichen Gleichgewicht ohne Menschen immer noch möglich ist.

Letea Urwald, Donaudelta

Von den slowakischen Beskiden bis ins rumänische Donaudelta ist eine lange Reise. Aber allein schon die Wildpferde, die dort leben, haben uns magnetisch angezogen. Frei lebende Pferde! Wo gibts denn so etwas noch bei uns in Europa! Natürlich ist das Donaudelta auch ein Vogelparadies. Aber es gibt dort auch einen Urwald. Den nördlichsten subtropischen Regenwald der Welt. Letea heißt er und besteht aus verschiedenen Laubbaumarten dominiert von Eichen. Hier auf Meeresniveau wächst kein Baum gerade. Erholsam, die verschlungenen Stämme zu sehen. Der Mensch baut alles eckig und gerade. Der Letea-Urwald hat keine einzige gerade Linie!

Sinca Noua Urwald, Fagarasgebirge

Endlich wieder in meinen rumänischen Südkarpaten. Hier zog es mich heuer bereits zum 10. Mal hin! Speziell das Fagarasgebirge hat es mir angetan. Ich habe hier schon viele Monate im Zelt verbracht und Bären, Wölfe und Bisons von Angesicht zu Angesicht getroffen. Ja sogar die männlichen Luchse habe ich da im März maunzen gehört.

Unser nächstes Ziel war daher ein 300 ha großer Urwald im Tal von Sinca Noua auf 800 m Höhe. Ein Wanderweg mit 5 Schautafeln führt durch den Wald. Die größte Attraktion ist der angeblich höchste Baum der Karpaten, eine 62,5 m hohe Weißtanne ganz rechts unten im Bild. Der Wald besteht hauptsächlich aus Rotbuchen und Weißtannen, Fichten gibt es praktisch gar nicht. Das ist bemerkenswert, weil die Urwälder in Österreich auf dieser Seehöhe haben immer auch Fichten dabei. Ob das damit zusammenhängt, dass es in Österreich so viele künstlich gepflanzte Fichtenmonokulturen gibt, die ihren Samen verstreuen?

Das Tal wird von den Rangern der Foundation Conservation Carpathia (FCC) überwacht, um Wilderei und illegale Abholzung zu verhindern. Und das gelingt offenbar. Die Ranger erzählen, dass hier 55 Bären, ein Wolfsrudel und mindestens 2 Luchse leben. Letztere wandern aber sehr viel umher. Ich habe ernsthaft ins Auge gefasst mir in diesem Tal eine Blockhütte zu bauen. Wir werden sehen.

Bisons und Biber wurden von FCC nicht weit entfernt ausgesetzt, sind uns aber nicht über den Weg gelaufen. Bärenspuren waren hingegen allgegenwärtig und sogar eine Luchsspur haben wir gefunden:

Cheita Urwald

Mehr zufällig sind wir auf den Urwald in der Cheita Schlucht gestoßen. Faszinierend und mir gänzlich unbekannt waren die ausgedehnten reinen Weißtannenwälder. Dass es so etwas gibt! Wunderschön für mich war das Gefühl, unter diesen dicken alten Tannen zu zelten, tagelang die Atmosphäre dieses ursprünglichen Waldes einzuatmen. Die Ruhe überträgt sich auf das Gemüt. Statt nervös und ängstlich zu sein, weil es hier Bären gibt, wie Menschen ohne Bärenerfahrung vielleicht vermuten würden, wird man, im Gegenteil, innerlich völlig gelassen und vergisst jede Zeit. Kein Stress, kein Termin. Totale Entschleunigung. Das ist in diesem Ausmaß nur in Wäldern möglich, die von Menschen nie verändert worden sind!

Piatra Craiului Urwald

Noch vor 20 oder 15 Jahren habe ich wilde Routen durch steile Felswände und über Eiswasserfälle gesucht. Ich war auch auf den 4.000ern der Schweizer Alpen und den höchsten Bergen Österreichs. Ist es das Alter? Jedenfalls ziehts mich jetzt in die Wälder. Statt zu einem hohen Gipfel, wandere ich heute lieber stundenlang, um einen schönen alten Baum zu erreichen oder einen kleinen Flecken Urwald zu besuchen.

Im Piatra Craiului Nationalpark besitzt FCC große Waldflächen, um sie vor menschlicher Nutzung zu bewahren. Darunter auch einen 1.000 ha großen Urwald. Den haben wir betreten. Im Gegensatz zu den bisherigen Urwäldern, die mehrheitlich aus Fichten, Rotbuchen, Weißtannen oder einer Mischung daraus bestanden haben, finden sich in diesem Urwald zig verschiedene Baumarten, darunter z.B. riesige Bergulmen, aber auch Eschen, Espen, Bergahorne, Erlen, Birken, Fichten, Tannen usw. Er reicht von 800 m bis zum Kamm auf 1600 m hinauf.

Auch in diesem Wald wird nicht nur keine Forstwirtschaft betrieben, sondern auch nicht mehr gejagt. Hier gibt es ebenfalls Bären, Wölfe, Luchse und Bisons. Die vielen Menschen, die in diesem Nationalpark zelten, sind von diesen großen Tieren völlig unbeeindruckt. Wir haben zwar keine davon gesehen, aber dafür einen mächtigen Habichtskauz. Beeindruckend, wie unglaublich lautlos dieser riesige Vogel fliegt.

Urwald im Fagarasgebirge

Das Fagarasgebirge mit gut 250.000 ha soll ein großer Nationalpark werden. Jedenfalls, wenn es nach dem Willen von FCC geht. Diese Naturschutzorganisation hat dort über 25.000 ha Wald gekauft und das Jagdrecht über 80.000 ha gepachtet. Das Fagarasgebirge soll der Yellowstone Nationalpark Europas werden (auch wenn Yellowstone etwa 3 Mal größer ist). Eine schöne Vorstellung. Vielleicht wird sie Wirklichkeit. FCC erhofft die Umsetzung in 15 Jahren.

Wir haben deshalb einen der versteckten Urwälder im Fagarasgebirge besucht. Er ist auch vollständig im Besitz von FCC. Ein sehr schönes Gefühl, zu wissen, dass dieser wunderschöne Wald nie abgeholzt werden wird. Dass die Menschen ihre gierigen Finger nicht auf das Holz dieses Waldes legen können! Ganz in der Nähe befand sich ein Kahlschlag. Ein Ranger erzählte uns, dass ein Mensch diese Fläche gekauft und illegal kahlgeschlagen hatte. Dafür sitzt er jetzt im Gefängnis. Ein Umstand, den ich mir für Österreich kaum vorstellen kann. Gefängnis für Kahlschlag? Ein spannendes Konzept!

Und schon waren unsere 4 Wochen wieder vorbei. Doch wir haben die Energie genutzt, die wir tanken konnten, um anschließend auch in Österreich noch in Urwäldern zu zelten. Aber das ist eine andere Geschichte.

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