26. April 2024

„riot from wrong“ – ein Film über die Ausschreitungen und ihre Ursachen nach dem Mord an einem Familienvater durch die Polizei

SONY DSC„Wem sagt der Name Mark Duggan etwas?“, fragte der junge Mann im Kino in den Zuschauerraum hinein. Kaum jemand hob den Arm. Für Polizei, Politik und Medien war Mark Duggan ein Niemand, einer der vielen schwarzen Männer in einem heruntergekommenen Teil von Tottenham in London, dem man jedes Verbrechen zutrauen würde. Welcher schwarze Mann in diesem Teil der Welt hatte keine Vorstrafe?

Mark Duggan hatte keine. Er war Familienvater mit 3 Kindern und  Ehefrau, arbeitete am Flughafen Stansted und wollte zur Feuerwehr wechseln. Am 4. August 2011 stoppten die BeamtInnen einer SOKO “Gewalt in schwarzen Stadtteilen” sein Taxi. Was dann geschah ist unklar. Die Polizei hat über die nächsten Stunden und Tage danach verschiedene Versionen zum Vorfall herausgegeben. Faktum ist, Mark Duggan wurde durch 2 Polizeikugeln in Oberschenkel und Brust getroffen und starb ca. 30 Minuten später. Zunächst hieß es, Duggan habe auf die Polizei geschossen, doch das vorgelegte Projektil stellte sich als eine Patrone aus einer Polizeiwaffe heraus. Dann behauptete eine Presseaussendung der Polizei, Duggan habe eine Pistole gezogen, doch die von der Polizei präsentierte Waffe hatte keinerlei Fingerabdrücke oder DNA von Duggan. Seine Familie sagte dazu ohne zu zögern, dass Duggan niemals Schusswaffen besessen habe. In den Medien war die Rede von ZeugInnen, die Duggan davonlaufen sahen, wie er getroffen wurde. Andere Quellen behaupten, die Polizei sei über ihm gestanden, als sie auf ihn schoss.

Nach dem Vorfall hielten es die Behörden nicht für nötig, seine Familie von seinem Tod zu unterrichten. Daraufhin zogen die Angehörigen und einige FreundInnen 2 Tage später zur Polizeistation, um Antworten zu erhalten. Die Polizei ignorierte diese Anfragen und schlug eine der DemonstrantInnen, ein 16 jähriges Mädchen, zu Boden – und die größten Massendemonstrationen, die England seit dem zweiten Weltkrieg gesehen hat, brachen los und breiteten sich zunächst über ganz London und dann über England aus. Von 6.-10. August 2011 wurde halb England verwüstet, 5 Personen starben, 3100 wurden festgenommen und später zu zum Teil sehr hohen Haftstrafen von bis zu 7 Jahren verurteilt. Insgesamt erhielten 1292 Personen Gefängnis von zusammen 1800 Jahren, d.h. im Mittel 16,8 Monate pro Person. 2 Jugendliche wurde zu je 4 (!) Jahren Haft in einer Jugendstrafanstalt verurteilt, weil sie auf Facebook zur Teilnahme an den Protesten aufgerufen hatten. Der Gesamtschaden wird mit umgerechnet € 300 Millionen angegeben.

19 junge Menschen, die das Geschehen hilflos mitverfolgten, beschlossen noch mitten während der Proteste einen Film darüber zu machen. Sie bildeten die Gruppe „fully focused“ und drehten 60 Stunden an Material. Heraus kam der Film „riot from wrong“. Bei meinem Besuch am Globale Festival in Berlin konnte ich diesen Streifen sehen und anschließend an der Diskussion mit zwei der FilmemacherInnen teilnehmen.

Der Film analysiert nicht nur die Genese der Proteste, sondern fragt nach den Ursachen, warum sie so gewalttätig und zerstörerisch wurden. Die Medien in England verteufelten offenbar die DemonstrantInnen sehr, die bürgerliche Mittelklasse war geschockt und verängstigt. Statt die Polizeigewalt zu kritisieren wurde gefragt, ob die ärmeren Schichten und insbesondere deren Jugend (mehr als 50% der Festgenommenen waren unter 20 Jahre alt) jede Moral und jeden Anstand vermissen ließen.

Der Film dagegen geht der Sache ohne Vorurteile auf den Grund. Dabei zeigt sich, dass die Jugendlichen dieser Bezirke seit geraumer Zeit von der Polizei in einem Ausmaß traktiert werden – die sogenannte stop and search procedure, also Durchsuchung und Identitätsfeststellung aufgrund des äußeren Erscheinungsbilds – dass in diesen Schichten ein abgrundtiefer Hass auf die Polizei entstand. Zusätzlich wurden durch die Wirtschaftskrise mehr als 70% aller Jugendzentren geschlossen. Die so auf die Straße gesetzten jungen Menschen werden dann von der Polizei ohne Anlass verdächtigt, gerade weil sie sich auf der Straße aufhalten. In vielen der ärmeren Communities gebe es keine Zukunftsperspektive und eine ungeheuerlich große Arbeitslosigkeit. Die tödliche Polizeigewalt gegen einen schwarzen Familienvater aus diesen Communities, zusammen mit dem Umstand, dass die Polizei danach offensichtlich etwas vertuschen wollte, war dann der Funke, der die Explosion auslöste.

Bei der Diskussion waren viele ZuschauerInnen etwas dadurch irritiert, dass der Film ein happy end hat. Nicht, dass sich die Probleme aufgelöst hätten, aber alle Beteiligten erklärten, dass in Zukunft alles besser werde, weil sie ihr Potential trotz schlechter äußerer Umstände nutzen würden. Das Problem nur bei sich zu suchen, anstelle eine politische Lösung anzustreben oder eine konstruktive Protestbewegung auszulösen, wirkte auf mich hilflos. Doch die beiden anwesenden Filmemacher wollten kein negatives Ende, sie wollten Hoffnung geben. Und die Missstände sehen sie dabei insofern als gegeben an, als dass sie sich außerstande fühlen, sie zu ändern. Für einen politischen Aktivisten mit Veränderungsanspruch wie mich, kann dieses Ende nicht befriedigen. Trotzdem empfand ich den Film als eine große Bereicherung und möchte ihn bestens empfehlen. Momentan ist er weder käuflich zu erwerben noch in den Kinos zu sehen, aber ich versuche gerade, den Film samt Filmcrew nach Österreich einzuladen, um auch hier eine Diskussion zu den angesprochenen Themen zu ermöglichen.

Hier der Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=dXPfpJ4fo68

2 Gedanken zu “„riot from wrong“ – ein Film über die Ausschreitungen und ihre Ursachen nach dem Mord an einem Familienvater durch die Polizei

  1. ” ich versuche gerade, den Film samt Filmcrew nach Österreich einzuladen, um auch hier eine Diskussion zu den angesprochenen Themen zu ermöglichen.”

    Das wäre ja total super, vielen Dank!

  2. traurig wenn menschen von polizeigewalt bedroht werden und wenn sich gewalttäter in uniform hinter dem staat verstecken und sogar menschen ungestraft töten können. ich denke viele aus den vgt können als unschuldige opfer von polizeigewalt ein lied davon singen, wie man/frau sich fühlt, wenn der staat sein instrument polizei einsetzt. ich denke oft an die familie des 14 jährigen Buben den ein Mörder in Uniform kaltblütig von hinten abgeknallt hat. mir ist es egal, wenn hier auch polizeispitzel mitlesen (btw f* U), hautsache der VGT macht weiter. heute stand im standard.at, dass Anonymus Austria bekannt gemacht hat, dass die Polizei sogar über die ÖBB kameras ihren orwellschen trieben nachgehen könne. ALWAYS remember MARK DUGGAN!!!

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