5. November 2024

Unsere Sefi ist gestorben – ein Nachruf für eine Ausnahmetierschützerin

Zum ersten Mal habe ich sie gesehen, als sie im Jahr 1999, am ersten Tag ihrer Pension, vor unserer Tür im VGT-Büro stand und sich als Hilfe anbot. Ihr Name Josefine Jagschitz, damals 59 Jahre alt, nach 40 Jahren Dienst am Menschen in der Sonderschule. Sie war, sagte sie zu jener Zeit, immer schon am Tierschutz interessiert, hatte seit langer Zeit vegetarisch gelebt, und konnte endlich durch die Pension ausreichend Zeit erübrigen, um sich aktiv für Tiere einzusetzen. Es sollten 24 Jahre eines intensiven Aktivismus werden. Gleichzeitig war sie Großspenderin. Im Jahr 2022 wurde sie von der Generalversammlung des VGT deshalb einstimmig zum Ehrenmitglied ernannt.

Ihre Kindheit hat sie in ärmlichsten Verhältnissen auf einem Bergbauernhof in Erpfendorf im Bezirk Kitzbühel im Anblick des Wilden Kaisers in Tirol verbracht. Ihr geliebter Vater war 1944 an der Eismeerfront in Finnland durch eine Granate gestorben. Seither musste die Mutter ihre drei Töchter alleine durchbringen. Es gab Kühe und Hühner am Hof. Sefi hatte schon damals viel Mitgefühl mit den Tieren und litt sehr darunter, wenn die Kälber von der Mutter getrennt und verkauft wurden, oder die Hühner geschlachtet. Zuflucht fand sie im nahen Wald, der auch zum Hof gehörte. Seither waren Wald und vor allem Blumen für sie, neben dem Tierschutz und ihrer Familie, das größte Glück. Diese Leidenschaft habe ich mit ihr geteilt. Wie oft waren wir zusammen wandern, im Urwald, auf großen hochalpinen Blumenwiesen! Wie haben wir uns im Frühjahr gemeinsam über den ersten Petergstamm in den Kalkfelsen meiner Heimatberge gefreut! Ich habe mit ihrer Hilfe sogar ein Buch über die Blumen meiner Umgebung verfasst.

Über ihre Kindheit wollte sie seit ich sie kannte nicht mehr wirklich sprechen. Darüber hat sie den Mantel der Vergessenheit gebreitet. Es muss sehr schwer gewesen sein. Keine Zeit für Familienfeiern, harte Arbeit von Kindesbeinen an. Sie hatte, bis sie in Innsbruck in die Klosterschule kam, nicht einmal Schuhe. Den Schutz der Füße gegen die Winterkälte, „Schuhe“ aus Stoff und Teig (!), haben sie am Hof selbst hergestellt. Zur Volksschule musste sie jeden Tag 5 km gehen.

Nach der Klosterschule kam sie über mehrere Stationen an ländlichen Schulen und ihre Hochzeit in Wien, in deren Folge sie zwei Söhne bekam, nach Baden als Lehrerin an die Sonderschule. Wohnen konnte sie ab da in einem Dorf im Wienerwald. Zwar war Tirol mit seinen hohen Bergen weit weg, doch der Wienerwald konnte ihr großes Bedürfnis nach Natur auffangen. Wie oft hat sie mir gesagt, dass sie ein Waldmensch ist, dass sie täglich in den Wald gehen muss, um sich im Leben zurecht zu finden. Der Wald war ihr Lebenselixier. Und ich konnte sie verstehen.

Durch ihre Liebe zum Wald und zu den Wildtieren hatte sie auch ständig Konflikte mit der ansässigen Jägerschaft und dem Waldbesitzer, dem Kloster Heiligenkreuz. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie man so altehrwürdige Rotbuchen und Weißtannen umfällen kann, um sie durch Fichten- und Kiefermonokulturen zu ersetzen. Eine Kirche, so sagte sie mir, steht unter Denkmalschutz, aber eine viel ältere und oft erhabenere Rotbuche wird achtlos in Festmeter Holz verwandelt. Jedes frisch gerodete Waldstück in ihrem Revier hat sie zutiefst entsetzt. Und ebenso die Kirrungen, die Futterspender für Wildschweine, die installiert waren, um diese Tiere hinterrücks erschießen zu können.

Dafür hat sie mir mit großer Begeisterung jede Orchidee im Wald gezeigt, jede neu aufgeblühte Blume. Um die Blütenpracht zu erleben, fuhr sie bis ins hohe Alter jedes Jahr mit dem Zug nach Südtirol und wanderte auf die Seiser Alm. Wie oft waren wir auch bei mir im Hochgebirge, um die winzigen Blumen auf den hochalpinen Rasen in 2000 m Höhe auf den weiten Grasmatten blühen zu sehen! Ein Farbenspiel, das seinesgleichen sucht, und das sich auch zeitlich verändert. Von weiß und gelb zu rot, violett und blau, je nach Jahreszeit. Diesbezüglich waren wir so seelenverwandt!

Als sie im besagten Jahr 1999 vor der Tür des VGT stand, war sie genauso alt, wie ich heute bin, und voller Tatendrang und Energie. In den nächsten 24 Jahren sollte der Tierschutz ihr Lebensinhalt werden. Damals waren wir gerade gegen Tiertransporte besonders aktiv. Das österreichische Tiertransportgesetz wurde nicht exekutiert, alle Transporte waren illegal. Deshalb hielten wir die LKWs voller Tiere auf und bestanden auf eine amtstierärztliche Kontrolle. Sie fuhr dazu mit anderen Tierschützer:innen und mir nach Salzburg, wir übernachteten in großer Gruppe am Fußboden unseres Büros und standen bereits um 4 Uhr früh am Walserberg, der Grenze zu Deutschland. Als der Tiertransporter kam, kettete sich Sefi tatsächlich mit Stahlrohren direkt unter dem Vorderrad des LKW an! Einfach so, ohne jede Erfahrung.

Zu dieser Zeit versuchten wir auch ein Wildtierverbot im Zirkus zu erreichen, was 2002 Erfolg hatte. Doch die Zirkusse hielten sich nicht an die neue Regelung und die Bezirksbehörden blieben untätig. Also beschlossen wir einfach während einer Vorstellung in die Arena des größten österreichischen Zirkus zu laufen, der noch Elefanten und andere große Wildtiere hatte, um dort Transparente zu entrollen, die darauf aufmerksam machen sollten, dass das, was hier geschah, eigentlich bereits verboten war. Doch alle Aktivist:innen wurden beim Betreten des Zirkuszelts abgefangen – außer Sefi. Mit ihrem Tiroler Dirndl schien sie der Security keine Tierschützerin zu sein und konnte so unbehelligt die Arena betreten und ihr Transparent entfalten. So war sie, unsere Sefi. Einfach unfassbar mutig, zumal dieser Zirkus für seine Brutalität bekannt war.

In den Jahren von 1998 bis 2007, nachdem wir das Pelzfarmverbot in Österreich durchgesetzt hatten, stellte ich mich die 6 Wochen bis Weihnachten jeden Werktag von 16-20 Uhr irgendwo auf einen belebten Platz in Wien, um mit Beamer, Lautsprecher und Leinwand meine filmische Dokumentation der Pelzfarmen zu zeigen und so den Weihnachtshandel mit Tierpelz zu verringern. Es war schwer für diese Dauerbelastung Unterstützung zu finden. Nur Sefi war absolut jeden Tag dabei, ob Wind, Regen oder Schnee, auch in Eiseskälte. Ohne sie wäre mir das nicht möglich gewesen.

Im Mai 2008 kam der Polizeiüberfall. Die SOKO Tierschutz hatte uns 14 Monate abgehört und observiert, und dann in der Nacht zugeschlagen. Zunächst wurden 23 Wohnungen und Büros durchsucht, auch meine und jenes vom VGT. Dann kamen noch weitere 10 Hausdurchsuchungen dazu. Bei einer davon wurden wir vorgewarnt und erschienen bei der Wohnung, bevor die Polizei da war. Sefi mitten unter uns gut 20 Aktivist:innen. Sie setzte sich, selbst fast 70 Jahre alt, direkt vor die Eingangstür, um sie zu blockieren. Schließlich wurde sie weggetragen und abgeführt.

Beim großen Tierschutzprozess, den sie für total ungerechtfertigt hielt, war sie als einzige Person neben einem professionellen Prozessbeobachter jeden einzelnen Tag ohne Ausnahme im Großen Saal des Wr. Neustädter Landesgerichts anwesend. Irgendjemandem war die Atmosphäre der Sympathie im Saal, die die hundert Zuschauer:innen erzeugten, zu viel und so wurden jede Früh busweise Polizeischüler:innen angekarrt, um die Sitze zu besetzen. Nur Sefi kam früh genug und hatte den Durchhaltewillen, sodass sie letztlich an jedem Tag zuhören konnte. In den 14 Monaten von März 2010 bis zum Mai 2011 waren das immerhin 98 Prozesstage. Danach feierte sie ausgelassen mit uns den Freispruch nach erwiesener Unschuld.

Aber auch diese staatliche Bedrohung tat ihrer Begeisterung für den Tierschutzaktivismus keinen Abbruch. Fast täglich radelte sie von ihrem Haus im Wald zur Busstation, fuhr nach Baden zum Bahnhof und mit dem Zug nach Wien, um dabei zu sein, wenn wir die Öffentlichkeit informierten oder laut und ungestüm gegen Ungerechtigkeiten demonstrierten. Auch wenn die Demo um 7 Uhr früh vor dem Ministerrat im Bundeskanzleramt begann, um auf das Schweineleid auf Vollspaltenboden hinzuweisen. Als die Landwirtschaftsministerin im Rahmen dieser Kampagne ständig davon lief und jedes Gespräch verweigerte, war sich Sefi nicht zu schade ihr bis nach Tirol nachzureisen. Bei öffentlichen Auftritten stellte sie sie zur Rede. Im Dirndl und mit Tiroler Dialekt wirkte sie für die Security harmlos und konnte daher ungehindert bis zur Ministerin vordringen. Auch nahm sie im Rahmen der Kampagne gegen die Gatterjagd an der Besetzung des Büros des zuständigen Landesrats in NÖ teil, der sich weigerte, sein Versprechen ein Verbot einzuführen, zu halten. Wir konnten ihn umstimmen.

In einigen Filmen, die auch im Internet zu finden sind, hat sie ihre Spuren hinterlassen. In „Hope for All“ ist sie eine der Hauptpersonen, die porträtiert werden. In einer Sendung im ORF mit dem Titel „Gesünder leben“ konnte sie ihren jahrzehntelangen Veganismus erklären. Aber auch im Dokumentarfilm über den Tierschutzprozess und in Videobeiträgen z.B. der Zeitung Heute wurde sie länger interviewt und befragt. Selbst im Tatort „Bauernsterben“ ist sie als Komparsin zu sehen, wie sie Kundgebungen gegen Schweineleid durchführt. Und am 22. Mai 2015 interviewte ich sie 41 Minuten lang im Tierrechtsradio über ihr Leben. Ein Beitrag, der heute noch als Podcast zu hören ist: https://vgt.at/projekte/tierrechtsradio/sendungen.php?i=288040#sendung

Den ständigen Vorwurf, den wir als Tierschützer:innen bekommen, wir müssten uns doch zuerst um Menschen kümmern, hat sie durch ihr Leben entkräftet. Sie war ein Paradebeispiel dafür, wie Tierschutz, Menschenschutz, Umweltschutz, Artenschutz und Klimaschutz Hand in Hand gehen. Nicht nur, weil sie 40 Jahre lang in der Sonderschule beeinträchtigten Personen half. Sie konnte an keinen Bettler:innen vorbei gehen, ohne ihnen etwas zu geben. Und in der von ihr geerbten Wohnung in Baden, die sie für 1.000 Euro im Monat hätte vermieten können, quartierte sie Flüchtlinge aus der Ukraine kostenlos ein, die dort heute noch wohnen. Sie war so freigiebig und half wo sie konnte. Sie brachte die jahrelange Pflege eines Freundes bis zu dessen Tod und gleichzeitig einen intensiven Tierschutzaktivismus unter einen Hut. Und im Laufe ihres Lebens hatte sie zig bedürftige Katzen und einen Hund in Pflege genommen. Wir haben unsere Tochter schon vor 5 Jahren im zweiten Namen nach ihr benannt.

Im Februar 2023 war sie noch bei unseren Kundgebungen mit viel positiver Energie und Lebensfreude dabei. Da gibt es Fotos, auf denen sie zu sehen ist, wie sie noch mit 83 Jahren als Banane verkleidet bei einer lustigen Demo für Veganismus im Wiener Stadtzentrum herum gesprungen ist.

Kurz darauf wurde sie von einem Virus niedergestreckt. Oder war es ein Herzfehler? Die Ärzteschaft konnte keine klare Diagnose fällen. Sefi sagte mir alle paar Wochen am Telefon, dass sie sicher bald wieder gesund würde und zu unseren Tierschutzaktionen kommen werde. Doch es sollte nicht mehr sein. Am Freitag den 6. Oktober 2023 etwa um 8:15 Uhr schlief sie in ihrem Bett für immer ein. Und selbst mit ihrem Tod wollte sie noch Gutes tun und hat ihren Körper der Wissenschaft vermacht. So gibt es kein Begräbnis, um von ihr Abschied zu nehmen.

Sie war eine meiner besten Freundinnen. Ihr Tod hinterlässt eine ungeheure Lücke in meinem Leben, ganz zu schweigen davon, wie ihr optimistischer Aktivismus uns allen fehlen wird. Wer geht mit mir jetzt in den Wald? Und wer bewundert mit mir die Blumenpracht im Gebirge? Wer freut sich mit mir über den ersten Petergstamm im Mai? Mich tröstet, dass sie selbstbewusst und mit sich im Reinen gestorben ist. Mir scheint, dass für sie der Tod einfach ein natürlicher und notwendiger Teil des Lebens war. Sie hatte keine Angst vor ihm. Bis zuletzt nicht.

Ruhe in Frieden, meine liebe Sefi. Du warst ein wunderbarer Mensch. Dein Leben hat sehr viel verändert in unserer Gesellschaft, für einen Einzelmenschen erstaunlich viel. Die Liste der Tierschutzreformen, die Du erreicht hast, ist lange, und jene der Individuen, denen Du geholfen hast, ebenso. Wenn junge Aktivist:innen darüber jammerten, wie langsam alles weitergeht, hast Du ihnen gesagt, sie hätten erleben sollen, wie es vor 25 Jahren war. Im Tierschutz ein großer Sprung, nicht zuletzt Dank Dir! Du wirst für immer unvergessen bleiben!

2 Gedanken zu “Unsere Sefi ist gestorben – ein Nachruf für eine Ausnahmetierschützerin

  1. Peter Rosenauer, aus Berlin:
    Die gute Sefi….
    sie war einfach immer da…fragte mit ihren warmherzigen Augen: warum geht nicht mehr voran…
    usw….
    Sie ist als Schutzgeist eh bei uns…die brauchen wir in dieser Zeit sehr….

  2. Lieber Martin Balluch,

    Es ist wirklich bewegend, die Zeilen Ihrer Erinnerungen und Memoiren über eine Menschenrechtsaktivistin zu lesen, die sich für stumme Tiere in unserer Gesellschaft eingesetzt hat. Sefi war ein strahlendes Vorbild für die heutige junge Generation, und sie hat diese Welt des Leids verlassen, während ihre Seele im Paradies Zuflucht gefunden hat. Ihr Abschied hinterlässt eine Lücke und Trauer sowohl in Ihrem persönlichen Leben als auch in der VGT-Organisation in Österreich. Doch ihr Bild wird niemals aus dem Herzen der Tierschützer verschwinden.

    Vielen Dank, dass Sie die berührende Geschichte von Sefi mit uns geteilt haben, was dazu beiträgt, sie noch kostbarer in unserer Erinnerung zu bewahren. Möge der Himmel über Sefis Seele wachen und sie von allen Leiden befreien.

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