28. März 2024

In der Natur

Ich bin immer wieder erstaunt, auf Menschen zu treffen, für die die möglichst unberührte Natur keinerlei besondere Bedeutung hat. Es reicht ihnen, spannende Naturbilder anzuschauen, ansonsten genießen sie lieber die Annehmlichkeiten einer Stadt. Meine Naturpassion beurteilen sie wie ein Hobby, vielleicht sogar einen Spleen. Manche Leute besuchen gerne ein Fußballmatch, andere wandern gern durch die Natur, ein jedes wie es will.

Für mich ist in die Natur zu gehen aber etwas ganz anderes. Der Hochschwaber Bergführer Rudolf Lindner schreibt in seinem Buch über dieses Gebirge: „Ein jeder Tag, den ich nicht draußen verbringe, ist ein verlorener Tag.“ Das fasst mein Gefühl gut zusammen.

In der Natur zu sein ist für mich wie atmen, einfach lebensnotwendig. Das hat mit Hobby oder Freizeitbeschäftigung überhaupt nichts zu tun. In der Natur zu sein bedeutet für mich zu leben, im Betondschungel der Stadt fühle ich mich tot. In der Natur wäre mir nie ein Weg zu anstrengend oder ein Wetter zu kalt. Das ist ein immanenter Teil der Natur, die Anstrengung und die Kälte, das gehört dazu, ohne dem wäre das Erlebnis nicht komplett. Die Natur muss man in allen Fasern des Körpers spüren, sie muss an einen herankommen. Das Naturerlebnis auf einen Genuss zu reduzieren ist völlig unmöglich.

Mein Zugang zu anderen Tieren basiert auch auf meinem Naturerleben. Hier kann ich die Tiere bewundern, hier leben sie autonom und sind wesentlich fähiger als ich, mit den Widrigkeiten umzugehen. Wenn wir uns hier auf Augenhöhe begegnen, ist es mir unmöglich, auf sie herabzuschauen, mich als etwas Besseres zu fühlen. Eine Kluft zwischen Menschen und anderen Tieren zu empfinden scheint mir nur unter zivilisatorischen Ansprüchen einer „Hochkultur“ möglich. Wenn ich sehe, wie mein Hund bei arktischer Kälte ohne zu zögern direkt aus dem Zelt nackt und bloßfüßig in den Schnee geht, wenn ich miterlebe, wie ausdauernd und schnell er läuft oder wie gut er riecht, dann kann ich nicht umhin, mich dagegen ziemlich unterlegen zu fühlen. Ich glaube, Menschen mit echtem Naturerleben sind gegen das Gefühl der Überlegenheit und der Selbstüberschätzung gegenüber anderen Tieren gefeit. Und ich denke aus dem Naturerlebnis ist mein Vorrang von Autonomie vor Leidensreduzierung leicht nachzuvollziehen.

Mit dem Naturerleben kommt allerdings eine andere Problematik in der Beziehung zu Tieren zum Vorschein. Liest man Nicolas Varnier z.B., der jahrelang die Arktis durchkreuzt und dabei sicher intensive Naturerlebnisse hatte, dann merkt man, dass er zwar Tieren auf Augenhöhe begegnet, aber aus dem Naturerlebnis die Berechtigung ableitet, Tiere zu töten und zu essen. Ja, Sensibilität und Mitleid mit nichtmenschlichen Tieren sieht er nachgerade als Zivilisationskrankheit und freut sich, dass seine Tochter mit 2 Jahren knietief im Blut eines eben erschossenen und ausgenommenen Elches steht, ohne sich zu grausen. Ähnlich ein Bergbauer, mit dem ich kürzlich lange gesprochen habe und zusammen in der Natur unterwegs war. Auch er tötet Tiere mit dieser Einstellung und auch er mutet seinem Kind diese Brutalität zu, weil er das für „natürlich“ hält.

Doch diese Einstellung beinhaltet einen Trugschluss. Wenn man sich – ein Mensch – als Tier unter Tieren fühlt, und deshalb mit dem Raubtierverhalten anderer das eigene rechtfertigt, wie begründet man, dass man sich nicht anderen Menschen gegenüber wie ein Raubtier verhält? Auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht, wird plötzlich von einer Kluft zwischen Mensch und Tier gesprochen, die vorher überhaupt nicht zu spüren, ja ich behaupte, überhaupt nicht da war.

Im täglichen Überlebenskampf mag es sein, dass man sich Mitleid nicht leisten kann. Und sicher ist es auch für uns Menschen psychologisch möglich, unsere Sensibilität zu überwinden und kalt und brutal zu werden. Aber in der Natur stehen wir in keinem Überlebenskampf. Wir können uns die Freiheit nehmen, Mitgefühl zu leben und unsere Sensibilität zuzulassen. Und tatsächlich finden wir das auch immer wieder in der Natur. Es gibt das Phänomen, dass Wildtiere andere schützen, ihnen helfen, ja sie sogar retten, natürlich auch über die – völlig künstliche – Artgrenze hinweg. Warum sollen wir uns nicht an diesem Verhalten ein Beispiel nehmen? Warum sollen wir ausgerechnet den Raubtieren nacheifern? Dadurch könnten wir jedenfalls unsere moralische Einstellung die Menschen betreffend mit unserem Naturerleben und unserer Tierethik in Einklang bringen.

Bei aller Brutalität – ich schärfe meinen Blick in der Natur bewusst viel mehr für Kooperation und Rücksichtnahme, als für Egoismus und Rücksichtslosigkeit. Und ich sehe keinen Grund, meine ethischen Ansprüche und Sensibilitäten beim Verlassen der Zivilisation über Bord zu werfen, im Gegenteil. Die gespürte Gleichheit von Menschen und anderen Tieren zu Ende gedacht, zwingt mich sogar dazu.

7 Gedanken zu “In der Natur

  1. Du sprichst mir aus der Seele. Ich finde, das Gefühl in der Natur zu sein, kann man durch nichts beschreiben. Müsste ich in der Stadt leben, würde ich depressiv werden.

    Es gibt wirklich viele Menschen, die für Natur gar nichts übrig haben, oder die Tiere nicht mögen, weshalb es ihnen auch relativ gleichgültig ist, was damit geschieht.
    Ich versteh nicht, wie man sich für etwas Totes wie materielle Gegenstände so begeistern kann, und nicht für etwas Lebendes, Existenzielles, für meine Umwelt.

    Mir ist auch aufgefallen, dass etwa Selbstversorger oder Leute, die “ursprünglich” leben wollen, oft Tiere ausbeuten. Einerseits streben sie selbst nach Freiheit und einem autonomen Leben, gestehen dieses den Tieren, die sie einsperrren, benutzen und töten, aber nicht zu.

    Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob jeder Mensch von Haus aus über Sensibilität und Mitleid verfügt. Es gibt wirklich Kinder, die mit auf die Jagd gehen oder auf einem Bauernhof aufwachsen und kein Problem damit haben, ständig mit dem Leiden von Tieren konfrontiert zu sein.
    Selbst wenn ich in diesem Umfeld aufgewachsen und so erzogen worden wäre, hätte ich diese Grausamkeit nicht ausgehalten oder hingenommen.

  2. Nicholas Vanier, na ja … den würde ich keinesfalls als Vorbild für den Umgang mit der Natur sehen. Ich war nach der Lektüre ziemlich angeekelt. Für den Umgang mit Frauen übrigens auch nicht (zumindest in seinen Texten, persönlich kenne ich ihn natürlich nicht). Was vermutlich zusammenhängt, oder?
    Man kann übrigens auch zu Stränden wandern, oder überhaupt in der Hitze … das sind ganz andere Herausforderungen, die ich aber nicht geringer schätzen würde, nur weil kein Schnee liegt!

  3. @VC
    Also gemeint habe ich nicht, dass Natur immer mit Kälte einhergeht, obwohl es in der Nacht in den Bergen auch im Hochsommer nicht so warm ist. Tatsächlich gehe ich, wie reinhard bestätigt, auch bei minus 10 Grad noch im T-Shirt mit meinen Schiern bergauf, weil die Anstrengung insbesondere bei trockener Kälte immer zum Schwitzen führt.

    Aber wenn ich mit dem Auto zum Strand fahre, mich in den Sand setze und die Umgebung genieße, dann ist das genauso wenig das, was ich mit Naturerlebnis gemeint habe, wie wenn ich mit dem Auto auf die Franz-Josephs-Höhe auf der Glocknerstraße fahre und dann am Pasterzengletscher sitze. Zum vollen Naturerlebnis gehört es, ihr ausgeliefert zu sein, und nicht beim ersten Regentropfen in ein Restaurant gehen zu können.

    Für mich ist das Wildnisgefühl auch z.B. mit der Möglichkeit, ein Buch zu lesen, inkompatibel. Die Wildnis fordert zu sehr Aufmerksamkeit. Das fängt mit Wetter, Blitzgefahr oder Lawinen an, geht über Wildtiere wie Insekten, Schlangen oder Bären weiter und reicht bis zum Einschätzen, wo die nächste Wasserquelle oder der nächste Schlafplatz sein werden. Die Wildnis fordert alle Sinne und auch das Gehirn, man spürt richtig, dass sie dafür da sind. Ein hedonistischer Genuss wie im Whirlpool eines 5-Sterne-Hotels ist damit eigentlich nicht vereinbar – auch an den schönsten Naturplätzen.

  4. @VC
    zuhören bzw., in diesem fall, sich dinge genau durchlesen, schafft klarheit. woraus schließt du, dass martin die naturverbundenheit ausschließlich in der kälte erlebt?
    die arktischen temperaturen, die dem hund nichts ausmachen, dienen ihm nur als extrembeispiel für sein gefühl der unterlegenheit. ich bin mir sicher, dass martin nichts gegen wärmende sonnenstrahlen hat. nur bei denen lässt sich schwer die überlegenheit des hundes aufzeigen. 🙂

  5. VC,
    aus deiner Sicht hast du sicher recht. Allerdings ist mein Eindruck, dass du den Kältewanderern den Genuss absprechen möchtest. Oder es nicht verstehen kannst. Wenn du dich bei 10 Grad minus bewegst, eventuell bergauf, dann wird dir schon warm. Sollte jedem Menschen so gehen, sonst stimmt etwas nicht. Leider sind wir von richtigem Frost nicht mehr verwöhnt. Denn gerade bei (klirrendem) Frost ist die Luft meist besonders klar. Und es gibt eine herrliche Fernsicht. Und Stille, wenn richtig Schnee liegt.

  6. für dich scheint natur aber immer mit kälte einher zu gehen. sind menschen die die wärme oder hitze der natur lieben denn weniger naturverbunden?

    bei sonnenuntergang an einem strand in der ausgehenden hitze sitzen, der sand noch warm, die sonne rot, und den blick über das weite meer… auf einem berg in der sonne, die grünbewaldeten hügel/berge bewundernd, im gras sitzen oder liegen, und die strahlen der sonne bis in sein innerstes spüren, durch die wärme sein herz aufgehen lassen – so stellt sich für mich natur dar.

    luft die man atmen kann, die nach mehr riecht, die farben die die nerven beruhigen und die augen erfreuen – all das fehlt mir persönlich in der kälte und im schnee und ich kann das absolut nicht geniessen, wenn ich dann auch noch hunderte sachen anhaben muss, um wenigstens ein paar minuten draussen zu sein. da spüre ich ja auch die natur nicht mehr, sondern nur die kälte, speziell an den exponierten stellen (gesicht, hände, etc.), aber in der wärme kann ich meine haut auch der natur öffnen 🙂

    es gibt also auch eine andere naturverbundenheit – nicht nur die mit der kälte 😉

    *knuddel*

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